Deutschland 2013 · 98 min. · FSK: ab 6 Regie: Marc Rensing Drehbuch: Annette Friedmann, Marc Rensing, Alexander Steimle Kamera: Tom Fährmann Darsteller: Steffi Kühnert, Jenny Schily, Christina Hecke, Steve Windolf, Lene Oderich u.a. |
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Ihr Lebenstraum – der Ärmelkanal |
Beate kennt nur einen Lebensinhalt: ihre Familie ist ihr Ein und Alles. Selbst während sie bei ihrer Arbeit in einer Großwäscherei Maschinen bedient, erteilt sie ihren Kindern noch telefonisch Ratschläge. Doch dafür, dass sie sich völlig für die Familie aufopfert, erntet sie keinerlei Anerkennung – ganz im Gegenteil: Als sie einen vermeintlichen Fehler bei den Hausaufgaben ihrer Enkelin macht, geht die alleinerziehende Tochter, die kurz vor ihrem Examen steht, Beate
harsch an. Der Sohn lässt sich im Hotel Mama fürstlich bedienen und zeigt wenig Verständnis, wenn der Kühlschrank mal nicht so prall gefüllt ist, wie es seiner Erwartung entspricht.
Dabei war Beate nicht immer das bessere Dienstmädchen ihrer Kinder: Zu Zeiten der DDR wurde sie als erfolgreiche Schwimmerin gehandelt, durchaus mit guten Aussichten, olympisches Gold zu holen, als ihr die Geburt der Tochter jäh einen Strich durch die Rechnung machte.
Plötzlich schlägt eine Nachricht wie eine Bombe in dieses fade, von Selbstaufgabe und Gefühlsarmut geprägte Leben ein: Ihr Arzt diagnostiziert Krebs, vermutlich eine Folge des Anabolika Missbrauchs aus ihrer Zeit als Leistungsschwimmerin. Diese Nachricht wird ihr Leben komplett aufwühlen und ihm eine völlig neue Richtung geben: Sie beschließt, einen Kindheitstraum in die Tat umzusetzen und setzt ihre ganze Energie in die Überquerung des Ärmelkanals – der „Mount Everest für Schwimmer“. Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, liegen ihre Erfolge doch mehr als dreißig Jahre zurück, ihr Körper ist leidlich untrainiert, auch meidet sie den nahegelegenen Strand, vielleicht gerade deshalb, um die Erinnerung an tiefliegende Sehnsüchte zu unterbinden.
Beate hat keine Träume mehr, sie besitzt kaum mehr eine eigene Persönlichkeit mit Ecken und Kanten, Wünschen und Sehnsüchten. Die Definition ihrer selbst erfolgt durch das Außen. Ihr schlichtes Dasein wird ausschließlich durch die Nähe zu ihrer Familie genährt und bestimmt. Doch diese Situation ändert sich schlagartig, als ihr Krebs diagnostiziert wird. Plötzlich gibt es für sie nur noch ein einziges Ziel: die Überquerung des Ärmelkanals. Die Kinder, die eigentlich schon längst flügge sein sollten, fesseln sie immer noch an sich und ihre Bedürfnisse und hindern sie daran, sich selbst zu erfahren. Geschickt halten sie ihre Mutter emotional mit ihrer Unfähigkeit, ihr eigenes Leben zu meistern, in Schach. Sie platzieren Vorwürfe und Understatements oder stellen Ansprüche, um sie für sich und ihre Bedürfnisse zu instrumentalisieren. Keine Situation, mit der man unbedingt tauschen möchte – die Bande sind zu fest gestrickt, das Blut zu dick, ein Ausweg scheint unmöglich, will sie nicht noch diesen Rest an Zuwendung in Form des Daseins für ihre Angehörigen verspielen.
Marc Rensings Film handelt davon, angesichts eines schwerwiegenden Ereignisses wieder zu sich selbst zu finden, die längst verschollen geglaubten Träume neu zu entdecken und in die Tat umzusetzen. Mögen die Grenzen noch so groß und schier unüberwindlich sein, sobald das Ziel klar und verinnerlicht ist, gilt es, sich diesem mit aller Kraft und Energie hinzugeben. Die Unterstützung, die sie erfährt, ist gering, Hindernisse und Versuchungen lauern an allen Ecken, wichtig ist nur, sich von diesen nicht beirren zu lassen und den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Derartige Einsichten und diese Form der Klarheit treten häufig erst im Angesicht schwerwiegender Krisen zu Tage, am Drastischsten beim letztlichen Aus jeglicher Existenz: dem Tod.
Die Frau, die sich traut operiert mit eindrucksvollen, tiefgehenden Bildern. Rensing vertraut auf eine schlichte Strukturierung nicht nur bei der Auswahl der Handlungsorte und hat den Film mit einer einfühlsamen, manchmal auch gewaltigen Musik unterlegt. Trotz seines tragischen Grundtons erlaubt Rensing auch knappe und punktuell gesetzte Situationskomik. Damit gelingt es ihm, die Klarheit einer Entscheidung aufzuzeigen und deutlich zu machen, wie
wichtig es für uns alle ist, die eigenen Träume konsequent zu leben und sich nicht von falschen Geistern täuschen zu lassen.
Wenn es etwas zu kritisieren gäbe, dann das unmittelbare Aufeinanderfolgen zweier Spannungshöhen und etwaiger Wendepunkte am Ende des Films, die leicht konstruiert wirken. Über diese kleine Strukturschwäche lässt sich aber getrost hinwegsehen.