Das freiwillige Jahr

Deutschland 2019 · 86 min.
Regie: Ulrich Köhler, Henner Winckler
Drehbuch: ,
Kamera: Patrick Orth
Darsteller: Maj-Britt Klenke, Sebastian Rudolph, Thomas Schubert, Stefan Stern, Daniel Nocke u.a.
Filmszene »Das freiwillige Jahr«
Überraschende, schiefe, auch poetische Perspektiven
(Foto: Grandfilm)

Verstrickte Generationen

Vater spricht, Tochter schweigt. Man spürt eine bestimmte unaus­ge­spro­chene Spannung zwischen den beiden, sie ist am Handy, er sagt: »Pack' das doch mal weg, das nervt dich doch selber.« Er weiß, was gut für sie ist, sie sieht das anders. Sie hat Probleme mit ihrem Freund, sie heult. Er holt die Kamera, er macht alle möglichen Dinge »für die Tochter«, die sie gar nicht gemacht haben will, und es ist deutlich, dass er sie eigent­lich für sich macht. Wir lernen den Vater sogleich als über­grif­figen Menschen kennen, als jemanden der in die Wohnung seines Bruders einbricht, weil der scheinbar nicht aufmacht – tatsäch­lich ist er nicht da –, und erkennen, dass die Tochter mit irgend­etwas hadert. Menschen am Rande des Nerven­zu­sam­men­bruchs. Eine gewisse Hektik, ja latente Hysterie durch­zieht diesen Anfang. Sie ist einer­seits der Situation geschuldet, denn Jette, die gerade ihr Abitur gemacht hat, muss zum Flughafen, um nach Costa Rica zu fliegen, wo sie in einem Kran­ken­haus arbeiten wird. Das ist das »frei­wil­lige Jahr« des Titels.

Aber die Anspan­nung hat einen tieferen Grund. Er liegt in der Dynamik der Situation dieser Menschen und ihres Umfelds, die der Film über die folgenden drei Tage entfalten wird. Denn Jette nimmt den Flug nicht. Vorwand ist ein kleiner Blech­schaden am Auto, als ihr Freund sie zum Flughafen bringt. »Bleib doch hier«, sagt er, und dann bleibt sie tatsäch­lich im Auto. Die beiden verbringen dort auch die folgende Nacht, nehmen Anrufe der Angehö­rigen nicht an. Man lernt mit Vater und Tochter somit zwei Menschen kennen, die ihr Leben in irgend­einer Weise nicht ganz unter Kontrolle haben. Tochter Jette hat Schwie­rig­keiten, sich zu entscheiden. Sie weiß nur, was sie nicht will. Etwa als der Freund am Morgen doch seine Mutter anruft, geht sie kurzer­hand einfach weg, geradeaus in den Wald, um erst am Abend wieder aufzu­tau­chen. Eine Verwei­ge­rungs­hal­tung.
Vater Urs entscheidet viel, vor allem für andere. Für den prak­ti­schen Arzt, der er ist, ist sein Benehmen und die Art, wie er mit seinen Mitmen­schen (nicht) kommu­ni­ziert, aller­dings erstaun­lich unsen­sibel. Urs ist auf gewisse Weise ein Chaot, und oft unwirsch. Er hört nicht auf andere, ist sehr auf sich fixiert und auf seine Tochter. Die erzieht Urs offenbar allein – von der Mutter ist nicht die Rede, bis zum Ende des Films erfährt man nicht, ob die Eltern getrennt sind, oder die Mutter gestorben. Urs' Verhältnis zu den anderen Mitmen­schen ist oft unfreund­lich. Er will es zwar allen recht machen, macht es dadurch aber niemandem recht, zumal klar ist, dass er auch will, dass alle seinen Erwar­tungen entspre­chen.

Die einzige Ausnahme bildet die verhei­ra­tete Nicole, die auch in der Praxis arbeitet, und mit der Urs ein Verhältnis hat.
Nachdem Jette im Wald verschwunden ist, wechselt der Film die Perspek­tive, und wendet sich von der Tochter dem Vater zu. Das Vater-Tochter-Verhältnis wird auf diese Weise gewis­ser­maßen »über Bande« erzählt – es steht aber immer im Zentrum. Und mit der Zeit versteht der Zuschauer, dass die beiden sich viel­leicht viel ähnlicher sind, als es zunächst schien.
Deutlich wird aller­dings auch bald der eine Unter­schied: Urs hasst den Ort, an dem sie leben, das west­fä­li­sche Dorf Donop. Darum proji­ziert er seinen Traum zum Aufbruch in die »weite Welt« auf die Tochter.

Die beiden Berliner Regis­seure Ulrich Köhler und Henner Winkler – beide Jahrgang 1969 – entwi­ckelten und insze­nierten diesen Film gemeinsam – ursprüng­lich als reine Fern­seh­ar­beit für den WDR. Das merkt man dem Film kaum an. Im Gegenteil findet auch Kame­ra­mann Patrick Orth immer wieder unge­wöhn­liche Bilder und über­ra­schende, schiefe, auch poetische Perspek­tiven auf die Figuren und den Ort.

Sehr gelungen ist der Film als ein etwas anderes, schräges Porträt des Dorf­le­bens, der Provinz und eines »ganz normalen« bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Mittel­stands.

Es ist auch ein Film geworden, der um Genera­tio­nen­ver­hält­nisse kreist. Die Alten können nicht loslassen, die Jungen kopieren entweder schon das Lebens­mo­dell ihrer Eltern, leben verspießert und alter­na­tivlos, oder sie müssen noch lernen, die Bevor­mun­dungen durch die Erwar­tungen der Anderen abzu­werfen. Erzählt wird aber auch vor allem von wider­sprüch­li­chen Welt­bil­dern. Weil diese aber viel­leicht auch nur die Wider­sprüch­lich­keit des Lebens spiegeln, müssen die Menschen immer wieder lernen, mit ihnen umzugehen. Das gelingt nicht allen. Die Menschen in diesem Film haben alle das Talent, unge­be­tene Gäste zu sein, im falschen Moment am falschen Ort aufzu­tau­chen. Jeder hier will vom Anderen irgend­etwas, was der andere nicht will. »Du musst Dir viel­leicht mal klar werden, was du willst, auch wenn du damit viel­leicht jemand anderen verletzt«, sagt der Vater zur Tochter und meint damit aber eigent­lich sich selbst. Wenn geschwiegen wird in diesem Film, ist es ein sehr lautes Schweigen. Unaus­ge­spro­chen bleiben auch viele Geschichten, die dieser dichte, kurz­wei­lige, mitunter absurden Witz entfal­tende Film auch noch erzählen könnte, aber nur andeutet.