Deutschland 2019 · 129 min. · FSK: ab 16 Regie: Christian Alvart Drehbuch: Christian Alvart, Siegfried Kamml Kamera: Christian Alvart Darsteller: Trystan Wyn Pütter, Felix Kramer, Nora Waldstätten, Marius Marx, Uwe Dag Berlin u.a. |
||
Nichts anderes als die Südstaaten der USA (Foto: Telepool/24 Bilder) |
»Und immer wieder sind die meisten Menschen Utopisten und ahnen nicht und wissen nicht und lassen sichs auch nicht sagen, dass sie mit der großen erwünschten Weltverbesserung bei sich selber anfangen müssen, und das eine der erstrebenswerten Verbesserungen wäre, keinen Utopien mehr nachzuhängen, sondern im Auge zu behalten, was wirklich ist.« – Erwin Strittmatter, Der Zustand meiner Welt – Aus den Tagebüchern 1974–1994
Nach den wichtigen filmischen Neubesinnungen zum Thema DDR eines Andreas Dresen (Gundermann) oder Andreas Goldstein (Adam und Evelyn), einer Annekatrin Hendel (Familie Brasch, Schönheit & Vergänglichkeit), eines Ralf Kukula und Matthias Bruhn (Fritzi – Eine Wendewundergeschichte) scheint endlich auch die Zeit gekommen zu sein, die Jahre nach der Wende mit ihren kampflos verlassenen Schlachtfeldern mit neuen filmischen und erzählerischen Mitteln zu erschließen.
Ein erster, überraschend wuchtiger Beitrag zu diesem Topos ist Christian Alvarts Freies Land, ein Genre-sicherer Thriller, der sich in das Ostdeutschland des Jahres 1992 begibt und den ehemaligen DDR-Kommissar Felix Kramer (Markus Bach) mit dem westdeutschen Kommissar Patrick Stein (Trystan Pütter) konfrontiert, um das Verschwinden von zwei Schwestern in der ostdeutschen Provinz aufzuklären. Wie schon für seinen Thriller Steig. Nicht. Aus! (2018) hat sich Alvart auch für Freies Land einer Vorlage des spanischen Kinos bedient. Auch in Freies Land funktioniert die Adaption hervorragend, folgt der Film in seiner grundlegenden Plotstruktur dem preisgekrönten spanischen Thriller La Isla Mínima – Mörderland wie ein Schatten, nur sind es die autokratischen DDR-Jahre statt der dunklen Jahrzehnte der Franco-Diktatur, in die hier die Tage wie Sirup in das große Fass Vergangenheit tropfen.
Doch Alvart, der schon mit seiner kontrovers rezipierten Netflix-Serie Dogs of Berlin zumindest gezeigt hat, dass auch deutsche Thriller-Formate sich vom Tatort-Einerlei mühelos emanzipieren könnten, gelingt es auch in Freies Land sehr schnell, sich zu lösen und die spanische Vorlage vergessen zu lassen. Das liegt nicht nur an den markant gezeichneten und immer wieder eindringlich gespielten Kommissaren, die stellvertretend für zwei deutsche Vergangenheiten und Identifikationsmodelle stehen, sondern auch an dem landschaftlichen Setting einer brilliant fotografierten abgehängten ostdeutschen Provinz mit ihren versehrten Industrieruinen und Provinzkäffern.
Alvart amalgamiert diese Bilder mit einem erzählerischen Duktus, der sich klassischer Leerstellen nicht nur bedient, sondern sie auch mit assoziativen Räumen anreichert, die überraschen, schockieren, die Spaß machen, und die berühren. Alvart zeigt ein Land, das zum Schweigen verdammt ist, weil ihm nicht nur die Ideologie verloren gegangen ist, sondern auch basalste gesellschaftliche Bindungsmodelle wie Familie und Freundschaften abhanden gekommen sind. Ein tiefgreifender Verlust, der durch eine amoralische, stille Wut ersetzt wird, für den Freies Land eindrückliche Bilder findet und dabei immer wieder auch an Ines Geipels »Umkämpfte Zone« denken lässt und ihre Worte: »Und natürlich wollen wir heute nichts mehr hören davon, vom Abwesenden, von Tabus, von schweigenden Vätern und Großvätern, von den Schulddynamiken in den Nachkriegsfamilien, Ost wie West. Wir sagen, wir kennen das, wir winken nur ab, wir sind randvoll davon. Die Bücherregale quellen über, die Filme sind abgedreht. Wir wissen alles, was wir wissen müssen. Und sowieso sind die Zeiten andere geworden. Und dann?«
Doch Freies Land eröffnet auch ganz andere Assoziationen – die Musik, die landschaftlichen, von oben gefilmten Horizontalen und natürlich auch die narrativen Komponenten mit ihren beiden so gegensätzlichen »Detectives« sind natürlich nicht nur Anspielung, sondern auch Verbeugung und Referenz vor einem der ganz großen Thriller-Projekte des letzten Jahrzehnts, vor Nic Pizzolattos erster Staffel von True Detective. Allein durch diesen Verweis, der allerdings nicht immer gleichwertig ausgespielt ist, öffnen sich Welten. Und es entsteht die ernüchternde Ahnung, dass Ostdeutschland im Grunde nichts anderes als die Südstaaten der USA sind, mit ihrer nie verwundenen und aufgearbeiteten Niederlage nach dem Bürgerkrieg und dass wir bei Weitem nicht am Ende, sondern erst am Anfang einer jahrzehnte-, wenn nicht gar jahrhundertelangen Stasis stehen könnten.