Norwegen/Ukraine 2024 · 90 min. Regie: Maria Stoianova Drehbuch: Maria Stoianova Kamera: Mykhailo Stoianov Schnitt: Maryna Maykovska |
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Der filmende Vater | ||
(Foto: Filmfest München · Maria Stoianova) |
Ausschließlich Archivaufnahmen zeit der Dokumentarfilm Fragments of Ice der ukrainischen Regisseurin Maria Stoianova. Ihr Vater hatte 1986, im Jahr ihrer Geburt, eine Filmkamera gekauft, mit der er seine Tourneen im Westen als Teil eines Eiskunstlauf-Ensembles filmte. Doch geht es in diesem Film nicht um sowjetischen Voyeurismus in eine verbotene Welt, die diese als Exotismus festhält. Stattdessen stellt der Film die Frage nach dem Wesen der Erinnerung.
Die Regisseurin begleitet in ihrem Langfilmdebüt alle Aufnahmen mit einer neutralen Stimme aus dem Off. Studiert hat sie Kulturwissenschaft und Soziologie in Kiew und bislang ausschließlich Kurzfilme gedreht. In Fragments of Ice bringt sie ihre Vergangenheit und persönlichen Erfahrungen ein. Als Verfasserin des Drehbuchs behält sie zudem die Autorität über die generelle Perspektivik. Aber trotz des persönlichen Materials hört man ihrer Stimme keine Emotionalität an.
Stoianova erwähnt zu Beginn, dass sie ihren Eltern die Aufnahmen gezeigt habe, und bringt deren Reaktionen mit in den Film ein. Dadurch verbindet er Beobachtungen aus der Vergangenheit mit den Eindrücken ihres Vaters. Der Film wird zum Ausdruck der Erinnerung. Er stellt die grundsätzliche Frage, warum wir im Privaten filmen oder fotografieren. Geht es darum, nur anderen zu zeigen, was man gesehen und wie man es wahrgenommen hat? Oder geht es darum, das Vergangene für die Zukunft zu konservieren?
Wie wir aus der Psychologie wissen, erinnern wir uns vor allem an emotionale Momente. Genauso verhält es sich mit den Aufnahmen in diesem Film: Der Vater bestaunt im Westen die Glasfassaden der Wolkenkratzer, die sauberen Straßen und westlichen Konsumgüter. Seine tatsächliche Arbeit als Einkunstläufer ist nur durch einzelne Aufnahmen belegt, muss aber den Großteil seiner verbrachten Zeit eingenommen haben. Außerdem filmt er die eigene Familie, vorrangig seine Tochter, der man so beim Aufwachsen zuschauen kann. Von der Tochter befragt, antworten die Eltern, dass sie sich an all die Auftritte in der Sowjetunion nicht erinnern können.
Die graue Tristesse des Ostblocks kommt nicht vor in diesem Raum der Erinnerung. Allgemein hat die Ideologie nur selten Zutritt zu dieser Welt: Vereinzelt übt der Vater Kritik an Funktionären, die aus Gefälligkeit bei Auslandsreisen mitfahren. Oder er filmt ein Gespräch zwischen einem sowjetischen Spitzel und einem estnischen Journalisten, die sich 1990 nach der Unabhängigkeit Estlands ein Streitgespräch im Flugzeug liefern. Ansonsten findet keine Auseinandersetzung mit dem Regime statt. Die fehlende Reflexion liegt nicht am Film, sondern am Filmenden.
Gegen Ende berichtet der Vater von einer besonderen Erinnerung, als er mit dem Auto über eine Brücke im Westen fährt und sich nostalgisch an den Schneefall erinnert. Diese will er gefilmt haben, doch die Tochter kann diesen Ausschnitt nicht finden. Es bleibt also doch Erinnerung jenseits des Films. Doch sogleich enden die Filmaufnahmen, als der Vater seine letzte Anstellung als Eiskunstläufer im Westen verliert. Ohne den Beruf und die Reisen in den ehemaligen Westen endet auch seine Erinnerung an diese Umbruchzeit.