USA 2008 · 142 min. · FSK: ab 12 Regie: Clint Eastwood Drehbuch: J. Michael Straczynski Kamera: Tom Stern Darsteller: Angelina Jolie, John Malkovich, Amy Ryan, Geoff Pierson, Jeffrey Donovan u.a. |
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Bizarre Realität: Der fremde Sohn |
Es gibt Momente, da könnte man, vor allem wenn man gern auch mal die Vermischten Seiten in der Zeitung liest und dort erfährt, dass Angelina Jolie gerade wieder ein neues Baby adoptiert hat, dass sie bei irgendeiner italienischen Menschenrechtsgala oder philippinischen Kinderheimeröffnung aufgetreten ist, oder dass sie in irgendeinem im Zweifel überschätzten Restaurant in Berlin-Mitte mit ihrem Mann Brad Pitt zu Abend gegessen hat, in solchen Momenten also, da könnte man fast vergessen, dass Angelina Jolie eine richtig gute Schauspielerin ist.
Schon in ihren ersten Auftritten hatte sie ein Leinwandcharisma, das sich andere auch nach 20 Jahren nur wünschen können, und das hat gar nichts damit zu tun, ob man nun findet, dass sie wirklich gut aussieht, oder doch eher einer überdimensionierten Barbiepuppe mit Schmollmund ähnelt. Aussehen, das zeigt kaum jemand so gut wie Jolie, kann auch eine Last sein, weil man dann hinter der attraktiven Oberfläche die ganze Kunst nicht mehr wahrnimmt – ein Problem, das sich Schauspielerinnen ohne eine solche Oberfläche naturgemäß gar nicht erst stellt.
Es sagt nun Einiges über den Regisseur Clint Eastwood, dass ihn solche Oberflächen nicht interessieren, genau so wenig wie offenbar die Nachrichtenseiten der Tageszeitung, sonst hätte er sich, wenn man ihn richtig einschätzt, wohl eine andere Hauptdarstellerin gesucht. Andererseits liest sich die Geschichte von Changeling, wie Der fremde Sohn im Original heißt, nun eigentlich genau wie eine jener wahnwitzigen, faszinierenden Geschichten, wie man sie täglich als zehnzeilige »Kleine Meldung« lesen kann: »Zugführer fährt mit abgerissenem Bein einfach weiter«; »Katze läuft 3000 Kilometer nach Hause«. Oder eben: Polizei zwingt Mutter, fremden Jungen als Sohn anzunehmen.
Die Story von Changeling ist in ihren atemberaubenden Details derart bizarr und im Ganzen so absurd, dass man sie jedem Drehbuchautor sofort um die Ohren hauen würde – wäre da nicht der entscheidende Punkt, dass sich dieser Wahnsinn im Wesentlichen einfach genau so ereignet hat, wie Eastwood es erzählt. Hier macht das »after a true story« einmal Sinn, das viel zu oft vor irgendeinem mäßigen Allerweltsfilm prangt, als ob das Wahre notwendig auch das Schöne und Interessante wäre, als ob Faktentreue immer besser ist, als Erfindung. Aber diesmal schon.
Um das klar zu machen, muss man mehr erzählen, als ein unvorbereiteter Zuschauer wissen sollte. Eine Geschichte aus der Zeit, als die Männer noch Hüte trugen: Im März 1928 verschwand der zehnjährige Walter Collins spurlos von zuhause. Seine alleinerziehende Mutter Christine erstattete Vermisstenanzeige, der Fall erregte nationale Aufmerksamkeit. Im August 1928 tauchte dann ein Junge auf, der behauptete, Walter zu sein. Unglaublich, aber eben wahr: Obwohl die Mutter von Anfang an insistierte, es handle sich nicht um ihren Sohn, und dabei von Zeugenaussagen wie durch Indizien unterstützt wurde, erklärte das seinerzeit durch und durch korrupte Los Angeles Police Departement (LAPD) unter dem Kommando ihres berüchtigten Chief Davis den Fall für geschlossen – um noch mehr negative Publicity zu vermeiden.
Christine Collins wurde gezwungen, den Jungen zuhause aufzunehmen, als sie insistierte, es sein nicht ihr Sohn, und rechtliche Schritte gegen das LAPD einleitete, wurde die Mutter widerrechtlich in die Psychiatrie eingewiesen – nach zehn Tagen kam sie auf öffentlichen Druck wieder frei. Der Fall wurde zum landesweiten Skandal, und löste eine umfangreiche Untersuchung der LAPD-Aktivitäten aus, die unter anderem mit der Absetzung von Chief Davis endete. Kurz darauf stellte sich heraus, dass Walter Collins eines der Opfer des »Wineville-Chicken-Coop«-Mörders wurde...
Der Originaltitel Changeling bedeutet »untergeschobenes Kind«, aber auch »Wechselbalg«. Letzteres trifft Teile des Films ganz gut, denn Eastwood belässt es hier keineswegs bei der faktentreuen Nachstellung eines der spektakulärsten Kriminalfälle der 20er Jahre. In manchen Szenen zwischen der Mutter und dem Kuckuckskind, und auch in jenen Passagen, die Aufklärung über Walters Schicksal bringen, ist dies Eastwoods Version eines Horrorfilms, die immer auch etwas von den Abgründen des normalen, ganz alltäglichen Amerika erzählt. Darin, wie auch in der Detailfreude, mit der die Komplexität des Geschehens ausgebreitet wird, erinnert der Film nicht nur an andere Eastwood-Filme sondern noch mehr an David Finchers Zodiac, der ebenfalls fasziniert einen weiteren realen Kriminalfall der kalifornischen Geschichte zum Spielfilmstoff machte.
Mehr noch als an der Historie ist Eastwood aber spürbar auch der Aktualität der Geschehnisse und Parallelen zur Gegenwart interessiert: Die zeigt er im Portrait einer empörend handelnden und abgrundtief korrupten Obrigkeit, die ihre Bürger, wenn es ihr nutzt, sogar in die Irrenanstalt sperrt. Kontrastiert werden solche Eindrücke aber vom Bild eines ewigen, idealtypischen Amerika, jenseits aller politischen Gezeitenwechsel. Was man auch sieht in Changeling ist nämlich eine funktionierende Zivilgesellschaft, die mit Hilfe sozial engagierter Populisten, unentgeldlich arbeitender Staranwälte, einer an Aufklärung und Systemkritik interessierten Medien-Öffentlichkeit und eines völlig unabhängigen Justizapparats den Fall schließlich aufklärt, die Schuldigen bestraft und den Opfern Genugtuung gibt – das ist das durch und durch idealisierte Wunschbild eines »guten Amerika«. Das mochte zum Zeitpunkt des Drehs noch als Gegenentwurf zum Bush-Country taugen. Aber schon historisch entspricht es nicht den Tatsachen: Die ihr vom Gericht zugesprochene Entschädigung hat Christine Collins nämlich dann doch nie erhalten, und nur vier Jahre nach seiner Absetzung wurde Chief Davis 1933 wieder eingesetzt. Da hört die »true story« dann auf und es siegt das Gesetz Hollywoods.
Brüchiger bleibt da Angelina Jolies Darstellung der Mutter: Sie erlebt Situationen, in der sie an dem Wahnsinn, der ihr geschieht, beinahe selbst irre wird. Und Eastwood erzählt das wie in Million Dollar Baby auch als eine weitere bewegende Geschichte der zahllosen Frauen, die in der Männergesellschaft ohne männlichen Schutz allgemeiner Willkür ausgeliefert sind. Fast zu groß für eine Schauspielerin. Nur ein Star wie Angelina Jolie könnte sie tragen. Und Eastwood inszeniert sie ätherisch, strahlend, in Großaufnahmen, immer »bigger than life«, mit Lippen, roter als rot und in edle Seide gewandet – dieses Bild einer idealen Mutter ist nie ganz von dieser Welt.