Friedliche Zeiten

Deutschland 2008 · 98 min. · FSK: ab 6
Regie: Neele Vollmar
Drehbuch:
Kamera: Pascal Schmit
Darsteller: Katharina Schubert, Oliver Stokowski, Nina Monka, Leonie Charlotte Brill, Tamino We u.a.
Liebe trotz Hindernissen

Kalter Krieg vor Eiche, rustikal

Die Nacht ist stock­dunkel, Regen pladdert auf die Wind­schutz­scheibe, auf der die hekti­schen kleinen Schei­ben­wi­scher nur für Sekun­den­bruch­teile den Blick frei­schau­feln. Das Steuer umklam­mert eine hübsche Frau mit Außen­welle im blonden Haar, neben und hinter ihr hocken drei verstörte Kinder. »Ich halt’ das nicht mehr aus, ich fahr jetzt in die Donau«. Und mit einem Blick auf die Tochter neben ihr sagt sie zärtlich: »Keine Angst, ich nehm' Euch mit.«

Die Szene, so schreck­lich, so wahr­haftig, so komisch, stammt von Birgit Vander­beke, sicher eine der gran­dio­sesten deutsch­spra­chigen Erzäh­le­rinnen. Mit gekonnt geführtem Skalpell seziert sie liebevoll die Gefühls­welten iherer Charak­tere, kriecht unter die Haut von Männern und Frauen, Kindern und Erwach­senen und allen, die dazwi­schen sind. Neele Vollmar hat aus dem Roman einen Film gemacht: Fried­liche Zeiten, ein ähnlich irre­füh­rendes Etikett wie Prager Frühling viel­leicht.

Die Mutter, Irene, so bekommt man schnell mit, hat einen veri­ta­blen Hau. Seit ihr Jugend­freund von den einmar­schie­renden Rotgar­disten erschossen wurde – ironi­scher­weise der Sohn des einzigen über­zeugten Kommu­nisten im Dorf – wird sie von Ängsten und Zwängen geplagt. Und nun scheint ihre düsterste Prophe­zeiung wahr zu werden: Die Russen marschieren mit Panzern in Prag ein, mähen den Frühling nieder. Es ist 1968, und für Irene steht fest: Der Krieg ist zurück­ge­kehrt.

»Doch dann«, sagt Ute, die jüngere Tochter, »brach der Krieg tatsäch­lich aus« – und zwar mitten im heimi­schen Wohn­zimmer. Aus dem Perspek­tive der Kinder, der hübschen blond gelockten Wasa, der etwas jüngern und unschein­ba­reren Ute und Flori, dem Nesthäk­chen, erzählt der Film, was passiert, wenn eine Ehekrise die ganze Familie überrollt.

Vater Dieter, der seine neuro­ti­sche Frau von Herzen liebt, hat nichts­des­to­trotz offenbar eine Affäre. »Die Zweitfrau« nennen die Kinder die dralle Blondine aus der Buch­hal­tung. Irgend­wann verfes­tigt sich bei den Mädchen der Gedanke, dass eine Scheidung die Patent­lö­sung wäre – weil Mama denn nicht immer sorgen­voll auf Papa warten muss. Und mit Papa, so haben sie durch die einzigen und somit exoti­schen Schei­dungs­kinder der Nach­bar­schaft eruiert, geht man dann sonntags in den Wien­er­wald. Und so betreiben die herz­klop­fenden Verschwörer mit kind­li­cher Logik und perfiden Strategie die weitere Entfrem­dung der Eltern und hoffen auf eine Trennung, die dem Elend ein Ende setzen möge...

Erstmal mag das über­ra­schen. Spielt die Geschichte doch in den 60ern, als eine Scheidung dem gesell­schaft­li­chen Ruin höchst nahe kam. Ute und Wasa aber haben nichts zu verlieren, als Flücht­linge aus der DDR, zudem noch mit einer heiß­ge­liebten aber durch­ge­knallten Mutter geschlagen, sind sie ohnehin miss­trau­isch beäugte Außen­seiter – da kommt es nicht mehr so drauf an.

Überhaupt ist dies ein Film vom Anders­sein. Das Anders­sein als Außen­seiter, aber auch von der Verschie­den­heit von Menschen generell. Und der Tatsache, dass man die Kluft von einem zum andern über­brü­cken kann. Anders sind wir alle – lieben kann man sich trotzdem – oder gerade weil. »Gibt’s überhaupt eine Sache, in der wir uns ähnlich sind?«, fragt Irene, die zwar einen Knacks hat aber nicht blöd ist. »Ich hab Heimweh und du hast Sehnsucht dach Amerika. Du gehst gern weg, und ich hab’s am liebsten, wenn alle drinnen sind und die Kette vor.«

Die Kette an der Haustür, die sich wie ein trauriger running gag durch den Film zieht, wenn die Mutter wieder einmal von unten zu den daheim blei­benden Kindern am Fenster herauf­ges­ti­ku­liert: »Macht die Kette vor«. Am Schluss, im neuen Eigenheim, Reihen­haus mit blass­blauen Bade­zim­mer­fliesen, ist die Kette dann plötzlich irgendwie vergessen. Jeden Tag warten die Kinder auf die Montage der Ohnmacht. Jeden Tag, der verstreicht, ohne dass die Mutter zur Tat schreitet, ist ein Verspre­chen auf Freiheit von der Angst – und auf so was wie Glück.