Für immer

Deutschland 2023 · 87 min. · FSK: ab 6
Regie: Pia Lenz
Drehbuch:
Kamera: Pia Lenz
Schnitt: Ulrike Tortora
Filmszene »Für immer«
Wie viel Opfer braucht es, um weiterzumachen oder aufzuhören?
(Foto: Weltkino)
38. DOK.fest München 2023

Die Liebe ist ein Haus

Pia Lenz’ dichte Dokumentation über ein (Liebes-) Paar im hohen Alter und ihre Erinnerungen an die Höhen und Tiefen des gemeinsamen Alltags ist so zärtlich wie einsichtig

»5.12.53: Ich hatte mir fest vorge­nommen, nicht so oft an dich zu denken.« – Aus Evas Tagebuch

Es ist selten, dass ein Film derartig nachwirkt, einen nicht mehr ruhig schlafen und vor allem nicht mehr gelassen lieben lässt. Vor allem dann, wenn man noch nicht so alt wie die beiden Prot­ago­nisten in Pia Lenz’ Doku­men­ta­tion ist und die Vergäng­lich­keit von Liebe und Sterben konse­quent verdrängen kann.

Dabei funk­tio­niert das mit der Verdrän­gung bei anderen »Alters­filmen« meist ganz gut, vor kurzem erst in Rainer Kaufmanns tragi­ko­mi­schem Old-Ager-Kammer­spiel Weißt du noch?, in der fröh­li­chen Sing-Doku Heaven Can Wait – Wir leben jetzt oder in selbst-thera­peu­ti­schen Hollywood-Alters­komö­dien wie Brady’s Ladies oder Book Club. Von all dem immer wieder auch sehr schönen Klimbim ist bei Pia Lenz – zum Glück – nicht einmal in Ansätzen etwas zu sehen.

Denn Pia Lenz, die mit ihrem Fern­seh­de­büt­film HUDEKAMP 2013 den deutschen Fern­seh­preis und mit ihrem Kinode­büt­film ALLES GUT – ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND 2018 den Grimme-Preis gewann, stellt ihre Prot­ago­nisten Eva und Dieter, die im Winter 1952 zum ersten Mal mitein­ander getanzt haben, die gehei­ratet, ein Haus gebaut und drei Kinder bekommen haben, allein über ihren gegen­wär­tigen Lebens­alltag vor, der allein dadurch getrübt wird, dass Eva krank ist und von Dieter gepflegt wird.

Doch kann man überhaupt von »getrübt« sprechen? Denn über die von Eva seit ihrer Zeit mit Dieter geführten Tage­bücher, aus denen Nina Hoss aus dem Off vorliest, erfahren wir, dass Liebe, selbst die ganz große Liebe immer auch bedeutet, die Liebe loszu­lassen und es besten­falls in einem neuen Gewand noch einmal zu versuchen. Manchmal sind es Zufälle, die verhin­dern, dass ein Paar wie Dieter und Eva sich trennen und es sind uner­klär­liche Zufälle, dass sie noch zusammen sind. Liegt es am Vergessen? Denn einmal liest Eva selbst aus ihrem Tagebuch vor und ist über­rascht, dass sie nicht mehr erinnert, was dort steht und was fast zur Trennung der beiden geführt hatte. Dieser Dialog mit dem Tagebuch und der eigenen Vergan­gen­heit ist ein so subtiler wie kluger Moment, wird hier doch dezent ange­deutet, was wir ständig machen, um unsere Gegenwart zu ertragen: die eigene Vergan­gen­heit um- und neu zu schreiben.

Dabei hilft nicht nur das Vergessen, sondern auch neue Freunde, so wie das Haus, das Dieter und Eva nach einem schweren Schick­sals­schlag beziehen und so umbauen, wie sie auch ihre Beziehung umbauen, wie sie lernen, allein und doch zu zweit zu sein. Dieses Haus ist der dritte, markante Haupt­dar­steller in Pia Lenz’ Für immer, er, es, oder sie ist Teil der Bezie­hungs­dyade von Eva und Dieter, spiegelt, was beide sind und fängt beide auf, gibt ihnen den Raum zu zweit und den allein. Es ist ein wunder­schönes Haus. So wie Dieter und Eva ein wunder­bares Paar sind, das über unspek­ta­kuläre Alltags­su­chen gelernt hat, was Liebe und Leben sein kann und heute für sie ist und das die Grenzen austa­riert hat, wie viel Nähe und wie viel Distanz eine Beziehung verträgt und wie viel Opfer es braucht, um weiter­zu­ma­chen oder aufzu­hören. Und dass es, wie der Schrift­steller und Fotograf Ulrich Schaffer betont, nicht reicht zu sagen »Ich liebe dich!«, sondern »Ich will dich lieben!«

Die Kamera von Pia Lenz und Henning Wirtz ist dabei so still und ruhig und bedacht, wie dieses Leben geworden ist, fast schon meditativ, um im nächsten Moment mit kris­tall­klarem, inves­ti­ga­tivem, aber dennoch liebe­vollem Blick auch die Einsicht auf Verzicht, den das Alter bringt, in beein­dru­ckende, nie senti­men­tale Bilder zu fassen.

Für immer ist ein Film über das Leben und das Sterben, über Aufstehen und Aufgeben, über all die Einsam­keit in der Zwei­sam­keit. »Wir leben, wie wir träumen – allein!« hat Joseph Conrad diesen Zustand einmal beschrieben. Es ist ein Film, der einem Angst macht, der einen das Fürchten lehrt, aber auch sagt, dass dieses Fürchten und diese Angst nicht mehr als die Angst vor Verän­de­rung sind. Und Verän­de­rung, das wird deutlich, ist die viel­leicht letzte Hoffnung in jedem Leben, bedeutet sie doch, überhaupt noch lebendig zu sein.