Belgien/Niederlande 2018 · 106 min. · FSK: ab 12 Regie: Lukas Dhont Drehbuch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens Kamera: Frank Van den Eeden Darsteller: Victor Polster, Arieh Worthalter, Tijmen Govaerts, Oliver Bodart u.a. |
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Vielschichtig, problembewusst, intensiv |
Glücklich sitzt Lara neben ihrem Vater im Auto, den kleinen Bruder im Arm. Die 15-Jährige hat soeben die Zusage bekommen, dass sie an der staatlichen Ballettschule zur Probe aufgenommen ist. Doch Lara weiß, dass es nicht leicht für sie wird. Da sie bisher keinen Spitzentanz lernte, muss sie jetzt sehr hart trainieren. Aber selbst wenn Lara unermüdlich übte, fragt sich, ob sie eine Karriere als Ballerina überhaupt einschlagen kann. Denn dafür bringt sie auch nicht das notwendige Durchsetzungsvermögen mit. Lara wirkt zurückhaltend und verschlossen, mit ihren langen Gliedmaßen bewegt sie sich steif und unbehaglich durch den Raum, sie hält sich am liebsten im Kreis der Familie auf. Dass sie in ihrem Körper nicht zuhause ist, sieht man ihr an. Und tatsächlich: Es zeigt sich recht bald, dass Lara in Wahrheit ein Junge ist, der lieber ein Mädchen wäre. Abhilfe kann in ihren Augen nur eine Operation schaffen. Doch das anstrengende Training verzögert die Geschlechtsumwandlung.
Lukas Dhont hat in seinem preisgekrönten Adoleszenzdrama mehrere Themen überzeugend ineinander geflochten, es gewinnt an Dichte und Konzentration, je mehr es voranschreitet, bis es in einer Verzweiflungstat kulminiert. So setzt er nicht nur die einfühlsame Beziehung zwischen Lara und ihrem Vater ins Bild, sondern arbeitet auch heraus, welche Probleme der Wunsch, einem anderen Geschlecht anzugehören, mit sich bringt und wie sich dies durch die Veränderungen in der Pubertät dramatisch zuspitzen kann. Dabei macht Dhont höchst anschaulich, wie eingeengt die gesellschaftliche Sicht auf die Geschlechter ist, wie die Gesellschaft den einzelnen beschämt und eindeutige Verhältnisse schaffen will. Mit seiner differenzierten Betrachtungsweise bewegt sich Girl auf gleichem Niveau wie Céline Sciammas mehrfach preisgekrönter Film Tomboy (2011).Bekanntlich handelt es sich bei einer Geschlechtsumwandlung nicht nur um einen biologischen Akt, der sich mit Hormon-Pillen und Operationsbesteck vollziehen lässt. Lara ist gleichfalls als soziales und psychisches Wesen modelliert, das mit dem Verhalten seiner Mitmenschen zurechtkommen muss und seelisch interagiert. Und das beobachtet der Film genau und vermittelt ein eindrückliches Bild davon. Das Handeln besonders der Mädchen geben Sartres Behauptung Recht: »Die Hölle, das sind die anderen.« Obschon sich die Klassenkameradinnen zunächst verständnisvoll geben, setzen sie Lara immer mehr zu, zwingen sie, sich vor ihnen zu entblößen und wenden sich bei Laras ‚Outing’ pikiert ab. Lara sieht sich damit konfrontiert, dass Sex und Gender gemeinhin als zusammengehörig empfunden werden. So verlangt die Geschlechtszugehörigkeit Konformität und duldet kein androgynes Begehren. Lara kann sich einem Jungen, mit dem sie ihre Sexualität erkunden will, nicht nackt zeigen, weil der ihr Begehren als homosexuelles empfände.
Dass Lara mit ihrem Leben unzufrieden ist, ist allerdings auch ihrer seelischen Verfassung geschuldet. Sie kann nicht sagen, was genau sie sich von der Operation verspricht. Jedenfalls hofft sie, dass sich durch äußere Veränderung auch ihr Inneres wandelt. Aber so macht sich Lara von ihrer Umwelt abhängig. Statt sich gegen deren Forderungen, gegen deren Druck zu wehren, richtet sie ihren Körper immer weiter zu, quält ihn, wendet ihre Wut gegen sich selbst und verweigert schließlich das Essen. Indes trägt der Wunsch, klassische Tänzerin zu werden, zu ihrer Krise bei. Dhont malt die Strapazen dieser Ausbildung äußert lebendig aus und entmythisiert diesen Beruf. Denn, um über eine Bühne leichtfüßig dahin schweben zu können, muss man sich vorher einem geradezu militärischen Drill unterziehen. Das hinterlässt blutige Spuren nicht nur an den Zehen. Von ihrem strapaziösen, aber auch freudlosen Alltag, der sie zumeist von daheim in die Schule, zum Training und wieder nach Hause führt, vermittelt Frank Van den Eedens Kamera ein sinnliches Bild. Mit warmen Gelb- und Rottönen charakterisiert er die Wohnung der Familie und Laras Refugium zuhause, während er die Ballettschule zumeist in kaltes, weißliches oder blaues Licht taucht. Seine bewegte Kamera nimmt die ewig gleichen Schrittfolgen auf und dreht sich mit der Protagonistin mit, das Skandieren der erbarmungslos antreibenden Lehrerstimme geht durch Alain Dessauvages Montage unter die Haut. Bis Lara außer Atem gerät und zu Boden stürzt. Lukas Dhont ist mit seinem Spielfilmdebüt ein vielschichtiges, problembewusstes und intensives Adoleszenzdrama geglückt.
Ein junges blondes Mädchen, auffallend schlank. Sie heißt Lara und tanzt anmutig Ballett. Danach sehen wir sie mit ihren Freundinnen in der Schule, dann zuhause bei der Familie. Irgendetwas stimmt nicht.
Nur ein paar Minuten dauert es, bis man verstanden hat. Der Körper des jungen Mädchens ist der eines jungen Mannes. Lara ist zwar erst 15 Jahre alt, aber sie nimmt starke Medikamente, die den Mann in ihr unterdrücken, den Körper verweiblichen und sie bereitet eine Operation zur endgültigen Geschlechtsumwandlung vor.
Das ist der Kern der Geschichte dieses Films und der Konflikt, der das zunächst sachte, doch zunehmend rasant eskalierende Drama hier vorantreibt: Lara will möglichst schnell auch körperlich ganz und gar das Mädchen werden, als das sie sich fühlt. Und Irritationen oder Anfeindungen gibt es im Schulalltag kaum. Doch nicht alle sehen sie schon als normales Mädchen, zumal in der Umkleidekabine oder bei zärtlichen Begegnungen mit gleichaltrigen Jungs, die nicht nur die Sorge haben, wie sie selbst ein Mann werden, sondern oft auch Angst davor, auf andere Jungen zu stehen.
Und der moderne Staat, der ist ein Präventions- und Patronagestaat, der die Menschen, vor allem wenn sie jung sind, nicht zuletzt auch vor sich selber schützen will, und der glaubt, vieles besser zu wissen, als die Betroffenen selber.
Das bedeutet für Lara: Es geht nicht alles so schnell, wie sie möchte. Sie will alles, sie will es jetzt sofort, und das bekommt sie nicht. Ihr Unbehagen und innerer Druck wachsen, und so wird ihr Alltag in ihren eigenen Augen zu einer Tortur, die zunehmend unerträglicher wird.
Zugleich ist es eine der größten Leistungen dieses Films, dass er Hormontherapie und Geschlechtsumwandlung weder künstlich vereinfacht, noch gar heroisiert.
Girl, »Mädchen« heißt das vielfach preisgekrönte Debüt des belgischen Filmemachers Lukas Dhont. Girl ist ein sehr sensibler Film, der sich ganz auf die Perspektive und Sichtweise seiner Hauptfigur einlässt. Er steht an Laras Seite. Diese Herangehensweise ist oft zwingend, aber eben auch einseitig und sie führt zwangsläufig zu Leerstellen. Weder erfährt man die Vorgeschichte von Lara, noch was
eigentlich mit ihrer Mutter ist. Wir wissen nur, dass der Vater offenbar Lara und ihren kleinen Bruder allein erzieht. Vieles andere muss sich der Zuschauer selbst zusammenreimen oder erklären.
Zugleich ist Girl ein Film, der sehr explizite Bilder bietet. So wird das Drama, im falschen Körper zu leben, selbst körperlich erfahrbar.
Girl ist auch ein Ballettfilm, also ein Film bei dem Körper und ihre Disziplinierung im Zentrum stehen. Nur dass hier der Körper ein besonderer und die Disziplinierung eine doppelte ist.
Aber das Bild-Repertoire des Widerspruchs aus perfekten, aber künstlichen Figuren, Drehungen, Posen einerseits und andererseits den so natürlichen, wie unperfekten, blutigen Zehen und stundenlangen harten Trainingseinheiten, bietet auch dieser Film. Der Hauptdarsteller, der Profi-Ballettänzer Victor Polster, ist in der Rolle der Lara überragend, und wurde bei der Premiere in Cannes mit einem Darstellerpreis ausgezeichnet.
Girl ist eine sehr besondere Geschichte des Erwachsenwerdens, des im Kino oft beschriebenen Coming-of-Age – ohne Pathos und Stereotypen, aber voller starker Gefühle.
Die Handlung geht auf eine wahre Begebenheit zurück, und wenn man das etwas sehr plakative, harte Ende des Films gesehen hat, wird man vieles im Rückblick noch einmal anders beurteilen.