USA 2012 · 103 min. · FSK: ab 12 Regie: Scott McGehee, David Siegel Drehbuch: Nancy Doyne, Carroll Cartwright Kamera: Giles Nuttgens Darsteller: Julianne Moore, Alexander Skarsgård, Onata Aprile, Joanna Vanderham, Steve Coogan u.a. |
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Gelassene Traumatisierung |
Alles nicht so leicht und dann doch wieder leichter und kreativer als jemals zuvor. Trennungen. Beziehungstrennungen. Scheidungen heute. Wie schwer so etwas noch vor 50 Jahren war, lässt sich nur mehr in Filmen wie etwa Sarah Polleys Things we tell erahnen, in dem Sarahs Mutter kein Sorgerecht für die ersten beiden Kinder erhält, weil sie diejenige ist, die sich von ihrem Mann trennt (und nicht umgekehrt). Oder ein paar Jahrzehnte später die Einsamkeit der Protagonisten in Kramer gegen Kramer, in dem die zerstrittenen Ehepartner in ihrem Kampf um das Sorgerecht zu Schatten ihrer selbst werden und erst in einem letzten Erkenntnisschritt zu sich selbst und zur Realität finden, abseits des ergangenen Gerichtsurteils.
Anders heute. Anders in Das Glück der großen Dinge. Zumindest was die Einsamkeit betrifft. Susanna (Julianne Moore) und Beale (Steve Coogan) haben sich offensichtlich auseinandergelebt. Ihr Erfolg als Rockmusikerin steht in krassem Gegensatz zu Beales kläglichen Versuchen finanziell erfolgreich zu sein. Beide sind beschäftigt mit ihrem Leben; der Alltag für die gemeinsame Tochter Maisie (Onata Aprile) wird durch ihr Kindermädchen Margo (Joanna Vanderham) gestaltet. Ein Alltag, der auch zeigt, wie wenig Alltag die Ehepartner noch miteinander teilen. Unweigerlich kommt es zum Bruch und der Kampf um Maisie entbrennt. Doch anders als in Kramer gegen Kramer sind die Ehepartner hier nicht alleine, sondern sind sie umgeben von neuen Partneroptionen und Freunden. Und ganz im Sinne gegenwärtigen Patchwork-Denkens- und Lebens werden Margo und Lincoln (Alexander Skarsgård) aus Susannas Umfeld zu immer wichtigeren Bezugspersonen für Maisie.
Scott McGehee und David Siegel betrachten dieses Szenario einer dysfunktionalen Kernfamilie fast immer aus der Perspektive des Kindes, ohne dabei auch nur in Ansätzen in einen Märchenonkel-Duktus abzugleiten. Bis auf Örtlichkeiten und Zeit (-räume) bleiben sie dem Geist der Vorlage von Henry James 1897 erschienenen Roman „What Daisie knew“ (so auch der Originaltitel des Films) treu, einem fast schon visionären und auch heute noch überzeugenden Meisterwerk der „Scheidungsliteratur“.
Dass der Film immer wieder an die Stärke der Buchvorlage heranreicht, liegt nicht nur an der empathischen Regie um die Entwicklung eines von instabilen Systemen umgebenen Kindes und einer mehr als gelassenen Traumatisierung – fast schon beunruhigend luzid von Onata Aprile gespielt – sondern vielleicht und vor allem an der eindrücklichen schauspielerischen Wucht von Julianne Moore. Wie Moore die Interpretation einer modernen, im Beruf verankerten Frau und alles andere als perfekten Mutter angeht, ist atemberaubend, wenn manchmal auch kaum zu ertragen. Denn anders als in Kramer gegen Kramer, wo die Frauenrolle durch Meryl Streep zugunsten Dustin Hoffmans stark vernachlässigt wurde, legen McGehee und Siegel ihre Betonung gerade auf die Entwicklung nicht nur des Kindes und in Ansätzen des Mannes, sondern vor allem der Mutter, die in einer Facettenvielfalt porträtiert wird, die intensiver und realistischer kaum sein kann: von zärtlichster Mutterliebe bis zu egoistischster Egozentrik und wieder zurück, von Schönheit bis Hässlichkeit, Bescheidenheit bis Arroganz, Übermutter bis Untermutter – eine hyperrealistische Achterbahnfahrt der Entwicklungen, an dem sich in fast gleichem Tempo die Nebendarsteller reiben dürfen, allen voran ein wunderbar linkischer, unsicherer und immer suchender Alexander Skarsgård, der moderne Mann par excellence.
Und am Ende? Auch wenn McGehee und Siegel an dieser Stelle Kramer gegen Kramer mit einem vielleicht nicht ganz realistischen „Umbesinnen“ und „Erwachsen werden der Erwachsenen“ zu zitieren scheinen, so wird doch zumindest etwas anderes sehr realistisch und eindeutig klar: wir leben nicht mehr in den 1980ern, sondern in den 2010ern, in denen irgendwann auch das kleinste Kind und die erwachsenste Frau einsieht, dass die eigenen Eltern nicht unbedingt die besten Eltern sind.