Die Gleichung ihres Lebens

Le théorème de Marguerite

Frankreich/Schweiz 2023 · 114 min. · FSK: ab 12
Regie: Anna Novion
Drehbuch: , , ,
Kamera: Jacques Girault
Darsteller: Ella Rumpf, Jean-Pierre Darroussin, Julien Frison, Clotilde Courau, Sonia Bonny u.a.
Filmszene »Die Gleichung ihres Lebens«
Klar umrissene Gegensätze...
(Foto: Weltkino)

Genies gehören verboten!

Normierung für Anfänger: Nur wer den Erwartungen der Umwelt entspricht, ist ein guter Mensch, erklärt uns Die Gleichung ihres Lebens

Wenn jemand in Mathe­matik sehr sehr gut ist, womöglich sogar hoch­be­gabt, dann schauen ihn normale Menschen darum oft ein bisschen seltsam und miss­trau­isch an. Denn die einen wissen es, die anderen ahnen es instinktiv: Mit dem normalen Leben hat Mathe­matik nicht viel zu tun. Denn wem wäre zum Beispiel eigent­lich damit geholfen, wenn es irgend­wann gelänge, die über 200 Jahre alte »Gold­bach­sche Vermutung«, eines der bekann­testen ungelösten Probleme der Mathe­matik, zu lösen? Was bringt es, außer dass die Welt um eines ihrer vielen Rätsel ärmer ist? Mathe-Nerds dürfen dem Autor dieses Textes dazu gerne schreiben und – bitte in möglichst einfacher Sprache – erklären, was sich mit der Lösung in der – Pardon – »wahren Welt« dadurch ändern würde .

Diese Einsicht wird auch für die Haupt­figur dieses Films eine zunächst bittere Erfahrung. Sie heißt Margue­rite. Brillant wie sie ist, wurde sie als einziges Mädchen ihres Jahrgangs an der pres­ti­ge­träch­tigen Pariser Univer­sität École Normale Supéri­eure mit einem Doktor­titel in Mathe­matik ausge­zeichnet. Ihre mögli­cher­weise revo­lu­ti­onäre Doktor­ar­beit kreist genau um jene erwähnte »Gold­bach­sche Vermutung«.
Doch als sie die letzte fast nur noch formale Prüfung ihrer Arbeit über­stehen muss, gehen Margue­rite die Nerven durch, weil sie selbst einen Fehler entdeckt. Als sie vor der Tafel (!!) und den Kollegen von einer uner­war­teten Frage blamiert wird, lässt sie alles mit einem »Excusez moi!« einfach stehen. Von da an nimmt die Eska­la­tion einiger sehr seltsamer Entschei­dungen ihren Lauf, die man eigent­lich nur als Hand­lungen eines verwöhnten jungen Menschen deuten kann, der noch nie mit echten Schwie­rig­keiten oder Einwänden konfron­tiert wurde. Eine Art Nerven­zu­sam­men­bruch. Margue­rite hat keinerlei – Vorsicht Modewort! – Resilienz, keinerlei Fähigkeit, mit Miss­erfolgen umzugehen, und zieht es offenbar vor, auf eine Karriere zu verzichten, für die sie ein immenses Talent besitzt, bloß weil sie ein paar prak­ti­sche Erwar­tungen nicht erfüllt hat.

Es scheint, als würde Regis­seurin Anna Novion einen weniger einfachen Weg einschlagen, nämlich eine Figur zu entwi­ckeln, die ihre Konzepte revi­dieren und Nieder­lagen als gewöhn­liche Belastung akzep­tieren muss. Doch die Konven­tionen schlei­chen auch in dieser Erzählung durch die Ritzen.

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Notge­drungen verlässt sie nun den geschlos­senen, vermeint­lich sicheren Kosmos der Univer­sität und beginnt die bisher unbe­kannte, »richtige« Welt zu entdecken. Dazu muss Margue­rite zunächst ihre Schüch­tern­heit über­winden und ganz unma­the­ma­ti­sche Flexi­bi­lität lernen. Denn das Leben ist mehr als eine zu lösende Mathe­auf­gabe.

Ein sehr positiver Aspekt von Le théorème de Margue­rite (so der Origi­nal­titel), vor allem in der ersten Hälfte, ist, dass die Prot­ago­nistin nicht unbedingt eine vernünf­tige Figur ist, niemand, mit dem man leicht warm wird. Die meisten Filme haben als Haupt­fi­guren Menschen, mit denen man sich schnell iden­ti­fi­zieren kann, oder gleich Helden, die immer das Richtige tun. Auf diese Weise bleibt der Zuschauer in einer bequemen Position.
Glück­li­cher­weise ist dies hier nicht der Fall.
Um ihre Miete zu bezahlen, beginnt Margue­rite gegen Geld in illegalen Spiel­höllen Mahjong zu spielen, ein Spiel, das ihr auch hilft, Antworten auf die Miss­ver­s­tänd­nisse in ihrer Doktor­ar­beit zu finden. Diese Idee ist spannend: Ein Mathe­genie steigt zum Star in der Unter­grund-Mahjong-Szene auf. Wer aber mit den Regeln des Spiels gar nicht vertraut ist, wird es schwer haben, hier irgend­etwas zu verstehen.

Alles ist schnell zu einfach, zu glatt. Und der Film verliert im Lauf der Zeit seine Identität. Was anfangs wie eine Reise der Selbst­fin­dung und der Ausein­an­der­set­zung mit den Vorur­teilen, mit denen Margue­rite in ihrem Umfeld konfron­tiert wird, aussieht, wird abrupt zugunsten einer Romanze aufge­geben, der jegliches filmi­sches Potenzial fehlt und die den Geschmack des Publikums kompro­mit­tiert.

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Das fran­zö­si­sche Kino wirkt wie ein Füllhorn für origi­nelle Geschich­ten­er­zähler: Die Filme­ma­cherin Anna Novion ist eine origi­nelle Stimme des so reich­hal­tigen fran­zö­si­schen Kinos. In ihren Filmen inter­es­siert Novion sich besonders für Menschen, die eine Mauer zwischen sich und der Außenwelt errichtet haben. So ging es in ihrem vorhe­rigen Film Rendez­vous in Kiruna um einen berühmten Archi­tekten, der ganz in seiner Arbeit lebt und zunächst nichts und niemanden um sich herum wahrnimmt. Ähnlich nun Novions neuer Film, Die Gleichung ihres Lebens, der bereits bei den Film­fest­spielen von Cannes 2023 gezeigt wurde und einen Preis gewann.

Novion arbeitet hier mit klar umris­senen Gegen­sätzen. Das ist in diesem Fall besonders daran erkennbar, wie sie den Raum der Univer­sität, der Forschung und Wissen­schaft, die auch der Filme­ma­cherin offenbar unver­traut ist, vom Rest der Welt abgrenzt.

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Wissen­schaftler, Mathe­ma­tiker zumal wirken auf »normale« Menschen offenbar derart skurril, dass sie im Film eigent­lich gar nicht anders als als nerdige Außen­seiter und Quasi-Autisten beschrieben werden können. Erinnern wir uns nur an Russell Crowe in A Beautiful Mind von Ron Howard oder all die verrückten Wissen­schaftler, die Science-Fiction-Filme oder Komödien wie Zurück in die Zukunft bevölkern.

Mindes­tens schreiben dann Schau­spieler hoch­kom­pli­zierte Formeln möglichst mit Kreide an eine Tafel und reden mit bedeu­tungs­voll gerun­zelter Stirn und »wichtigem« Gesichts­aus­druck Sätze, die kaum ein Zuschauer versteht, die ihm aber ähnlich bedeu­tungs­voll vorkommen, wie zum Beispiel diesen: »Du kannst nicht gleicht­zeitig K, L und Delta elimi­nieren!«
So ist es, oder?

In der Tradition solcher Figuren steht auch Margue­rite. Sie erfüllt alle Eigen­schaften, die im Kino oft für die Darstel­lung von beses­senen Genies verwendet werden: Sie hat selbst­ver­s­tänd­lich eine betont große Brille auf der Nase, sie ist in sich gekehrt, hat Schwie­rig­keiten, soziale Kontakte zu knüpfen, ist irgendwie grau und schüch­tern und zeigt sogar einige nervöse Ticks. Ihr offen­sicht­li­cher Gegenpol ist Lucas, der in Bezug auf seinen Intellekt und seine logischen Fähig­keiten gleich­wertig ist, sich aber ganz anders verhält. Während Margue­rite eine graue, skru­pulöse Persön­lich­keit besitzt, hat Lucas ein sonniges Gemüt, immer ein Lächeln im Gesicht, und spielt in einer Band.
Lucas bietet ihr die Möglich­keit, zu zweit zu arbeiten, was ihren Hang zur Einsam­keit minimiert. In einer Gleichung der Gefühls­ge­gen­sätze wird Lucas implizit vom Film als Lösungs­an­satz für Margue­rite vorge­schlagen.

Ihre neue Mitbe­woh­nerin ist ein weiterer, allzu über­schwäng­li­cher Kontra­punkt zur Apathie der Haupt­figur und lehrt sie, mit den Fehlern anderer zu leben.

Es ist, als ob der Film uns von Anfang an ständig sagt: »Margue­rite muss dies und das tun, Margue­rite muss sich mehr der Welt öffnen, muss ihre mathe­ma­ti­schen Bemühungen mit ihrem Bedürfnis nach mensch­li­cher Inter­ak­tion in Einklang bringen.«
In gewisser Weise ist dies eine sehr reduk­tio­nis­ti­sche Haltung der Regis­seurin, da sie schon früh ein Modell präsen­tiert, in das sich die Prot­ago­nistin wie in eine perfekte Gleichung einfügen muss.

Für jede Szene, die ein wenig vom Gewöhn­li­chen abweicht, gibt es in diesem Film viele andere, die die mora­li­sche, lehr­reiche Richtung bekräf­tigen. Am Ende bleibt der Erfolg das einzige Ergebnis, das diese junge Frau zufrieden stellt.

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Die Schweizer Schau­spie­lerin Ella Rumpf, die die Haupt­rolle der Margue­rite spielt, liefert eine Vorstel­lung, in der man die Verän­de­rung der Prot­ago­nistin in diesen beiden Welten sehen kann. In der Außenwelt wird sie allmäh­lich erwachsen und erlangt die nötige »Unge­zo­gen­heit«, um die Heraus­for­de­rungen des Lebens noch effi­zi­enter zu meistern.

Regis­seurin Anna Novion entfernt sich allmäh­lich von der Ausgangs-Idee, ihre Haupt­figur in deren nicht unbedingt ange­nehmer Komple­xität zu beob­achten, und entwi­ckelt eine Neigung zum Verein­fa­chen, eine Tendenz, die sich in den starken Kontrasten und dem Mangel an Nuancen zwischen ihnen schon früh ankündigt.

Das ästhe­ti­sche Haupt­pro­blem dieses Films ist die Naivität der Ursache-Wirkungs-Bezie­hungen, insbe­son­dere das Angebot von Beloh­nungen für die Prot­ago­nistin in Abhän­gig­keit von ihrer Bereit­schaft, sich zu ändern und den Erwar­tungen der Umwelt zu entspre­chen. Wenn sie sich anderen gegenüber ein wenig mehr öffnet, bekommt sie ein Zuhause, Zuneigung, beruf­li­chen Erfolg und sogar eine lukrative Neben­kar­riere an illegalen Mahjong-Spiel­ti­schen. Die Handlung hat einen schwer mora­li­sie­renden Zug, der dem Publikum eindeu­tige Wege zum Glück aufzeigt, ohne zu erkennen, dass diese Wege nie für alle gleich sind. Und um die Klischees dieser Art von erhe­bendem, von Verwand­lung getra­genem Film zu vervolls­tän­digen, gibt es ein Love Interest. Am Ende wird Margue­rites Schicksal als eine komplexe und faszi­nie­rende Gleichung darge­stellt, die jedoch durch sehr einfache Opera­tionen gelöst wird.

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Auch wenn er inter­es­sante Figuren und eine gut erzählte Geschichte enthält, tut der Film Die Gleichung ihres Lebens im letzten Drittel des Films also nicht viel mehr, als eine Art erzwun­gene »Erziehung der Gefühle« zu skiz­zieren, durch die Margue­rite grund­le­gende Aspekte ihrer Persön­lich­keit beibehält, aber lernt, ein besserer Mensch zu sein und weniger ratio­na­lis­tisch zu werden. Und am Ende nimmt sie natürlich trotzdem ihre Doktor­ar­beit wieder auf, und löst mögli­cher­weise sogar das Goldbach-Problem.

Aber ist das Leben wirklich nur eine perfekte Gleichung?