Frankreich 2019 · 107 min. · FSK: ab 12 Regie: Robert Guédiguian Drehbuch: Serge Valletti, Robert Guédiguian Kamera: Pierre Milon Darsteller: Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Anaïs Demoustier, Robinson Stévenin u.a. |
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Der Gangster und das Baby | ||
(Foto: Film Kino Text/Filmagentinnen) |
Hier soll sich alles in Cash verwandeln. Mal gibt es fünf Euro für einen Toaster, mal zehn, je nachdem wie die Laune der Kassiererin ist. Die Leute, die in den Laden »Tout Cash« kommen, brauchen das Geld. Marseille ist in Gloria Mundi, dem neuen Film von Robert Guédiguian, eine raue Stadt, eine Stadt, wie man sie aus den Schlagzeilen kennt, wegen ihrer Gewalt und der Armut. Robert Guédiguian, der selbst in Marseille geboren ist, hat sein gesamtes Werk der Stadt am Mittelmeer gewidmet, aber noch nie sah man die Stadt in so grauen Farben gezeichnet wie hier. Grau, selbst wenn die Sonne scheint und die Schönheit der Stadt am Mittelmeer aufdringlich wird. Im Zentrum von Gloria Mundi steht eine Patchwork-Großfamilie, die gegen den Abstieg in die Armut ankämpft. Aber wie in einer griechischen Tragödie erzählt der Film auch von der Unausweichlichkeit eines Schicksals, dem man nur durch die Poesie entkommen kann.
Guédiguian hat fast sein ganzes Werk in Marseille gedreht, seine Filme sind Liebeserklärungen an die Stadt, mehr noch aber an die Menschen, die sich in ihr abrackern, es sind kleine Leute, Arbeiter, die ihn interessieren. Sein neuer Film, der eigentlich »Sic transit gloria mundi«, »So vergeht der Ruhm der Welt« heißt – ein zentraler Spruch in der päpstlichen Krönungszeremonie –, beginnt mit der Geburt eines Kindes, von Gloria. Nach und nach kommen die Mitglieder der Großfamilie an das Wochenbett, bringen künstliche Blumen mit, weil echte im Krankenhaus verboten sind, lassen Sektkorken knallen. Wie die heilige Familie stehen sie um das Bett, als lägen darin die Mutter Jesu und ihr Kind, noch dazu spielt der Film zur Weihnachtszeit. Diese ikonische Einstellung, der Titel des Films und auch der Name des Kindes suggerieren: Gloria soll die Erlöserin sein, das Licht im Dunkel einer schwer arbeitenden Familie, die mit einem oder auch beiden Beinen im Knast steht. Noch im Krankenhaus werden dem frischgebackenen Vater vom Schwager Drogen angeboten, damit nach der Geburt der Sex wieder aufregend wird.
Über zwanzig Jahre nach seinem berühmtesten Film Marius und Jeannette über eine Liebe im malerischen Hafen von L’Estaque blickt Guédiguian erneut in das Milieu der Verlierer, kann dort aber keine Sozialromantik mehr entdecken. Drogen, Arbeitslosigkeit, Mini-Jobs bestimmen das Leben der Protagonisten. Der eingangs erwähnte Shop namens »Tout Cash« soll eine Goldgrube sein, in Wirklichkeit alimentiert er eine Werkstatt von Arbeitern ohne gültige Papiere, die ohne Sozialabzüge, aber auch ohne Sozialversicherung – Guédiguian ist in manchen Momenten überraschend explizit, als wäre er der französische Ken Loach – schuften. Mathilda (Anaïs Demoustier), die Mutter von Gloria, arbeitet in prekären Verhältnissen in einem Klamottenladen, nicht einmal eine Pinkelpause darf sie machen. Ihr kann jederzeit gekündigt werden, während ihr Mann, der Touristen zu den Sehenswürdigkeiten chauffiert, von einem Taxi-Syndikat überfallen wird und von da an arbeitslos – und potenzlos – ist.
Ein stummer Protagonist ist auch wieder Marseille, aber wie anders ist der Blick auf die Stadt als in Guédiguians letztem Film, dem sehr idyllischen Das Haus am Meer, der sich zur Apotheose an die Schönheit der lichterfüllten Bucht aufschwang. Die Menschen leben und arbeiten im Schatten einer tosenden Schnellstraße, hohe Bürotürme aus Glas und Stahl erzählen vom Ehrgeiz der Stadt, es endlich mal zu etwas zu bringen, genau wie ihre Einwohner. Vor einer Skyline, als wäre Marseille Manhattan, absolviert Sylvie, die Oma von Gloria, Nachtschichten als Putzfrau, weil das mehr Geld einbringt. Ariane Ascaride, die Frau von Robert Guédiguian, spielt sie, und dass dieser kaum zwischen seiner »wahren« und seiner Film-Familie unterscheidet, unterstreicht die Anwesenheit von Jean-Pierre Darroussin, der gleichmütig, wie er es schon so oft in den Filmen von Guédiguian war, einen Linienbus durch die Straßen lenkt.
Aber dies ist natürlich kein Film von Ken Loach, zum Glück. Die tragische Dimension, die diese Abstiegs-Geschichte dem Sozialrealismus entreißt, kommt mit einer Figur aus dem hohen Norden in den Film hinein, der nicht umsonst im deutschen Nebentitel »Rückkehr nach Marseille« heißt. Daniel ist der erste Mann von Sylvie und leiblicher Vater von Mathilde. Zwanzig Jahre lang saß er im bretonischen Rennes im Knast, weil er in Notwehr getötet hatte. Als frisch aus dem Gefängnis Entlassener kündigt sich mit ihm die Dimension von Kleinkriminalität und Totschlag, von Schuld und Sühne an. Der Marseiller Schauspieler Gérard Meylan spielt ihn, er hat schon öfter den Gangster aus Marseille gemimt, gehört aber ebenfalls zur »Familie« von Guédiguian. Daniel hat im Knast zu Poesie und Weisheit gefunden, er schreibt vielsagende, schwebende Haikus und weiß im entscheidenden Moment, was zu tun ist, als sich das Sozialdrama zur Tragödie wendet. Nur scheinbar jedoch hält er damit den unerbittlichen Kreislauf der immergleichen, unausweichlichen Misere auf. »Auch wenn ich die Zeiger meiner Uhr abgerissen habe, ist die Zeit nicht stehengeblieben«, lautet sein abschließendes Haiku.