Italien/CH 2024 · 111 min. · FSK: ab 12 Regie: Margherita Vicario Drehbuch: Anita Rivaroli, Margherita Vicario Kamera: Gianluca Palma Darsteller: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Maria Vittoria Dallastra, Sara Mafodda, Veronica Lucchesi u.a. |
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Ich singe, also bin ich! | ||
(Foto: Neue Visionen) |
»Wie aber dann die Sonne immer höher stieg, rings am Horizont schwere weiße Mittagswolken aufstiegen und alles in der Luft und aus der weiten Fläche so leer und schwül und still wurde über den leise wogenden Kornfeldern, da fiel mir erst wieder mein Dorf ein und mein Vater und unsere Mühle, wie es da so heimlich kühl war an dem schattigen Weiher und daß nun alles so weit, weit hinter mir lag. Mir war dabei so kurios zumute, als müßt ich wieder umkehren; ich steckte meine Geige zwischen Rock und Weste, setzte mich voller Gedanken auf den Wagentritt hin und schlief ein.«
– Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts
Natürlich gab es schon immer Hippies, davon hat ja schon Joseph von Eichendorff in seiner Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts erzählt. Die Pop-Sängerin und Schauspielerin Margherita Vicario weitet diesen Gedanken in ihrem Regie-Debüt auf die weibliche Seite aus und erzählt eine pralle Geschichte, in der wie in späteren Hippie-Gegenkulturen die Musik eine außerordentliche Rolle spielt.
Vicario erzählt in ihrem Film, der bei der letzten Berlinale im Wettbewerb um den Goldenen Bären vertreten war, von einer Gruppe der Pubertät gerade entwachsener Waisenmädchen im Venedig des späten 18. Jahrhunderts, denen Anstand und ein wenig musikalische Bildung in ihrem katholischen Waisenhaus beigebracht wird, um später anständig verheiratet werden zu können. Vicarios Mädchenbande ist an diesem Gang der Dinge jedoch weniger interessiert, erkennen sie doch nicht nur die korrupten Machenschaften der Kirche, sondern auch ihre musikalische Unfähigkeit. Über einen dem Waisenhaus geschenkten Flügel, der in den Keller verdammt wird, weil er einer musikalischen Revolution gleichkommt, beginnen sie sich zuerst nur musikalisch zu emanzipieren, dann jedoch auch charakterlich.
In dieses Coming-of-Age bettet Vicario, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, einige Subplots ein, die nicht nur von den gesellschaftlichen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten des Venedigs der damaligen Zeit erzählen, sondern immer wieder auch Details über die Entwicklung der Musik erwähnt werden, die Parallelen zur Entwicklung der Pop-Musik in den 1950er Jahren andeuten, in denen die Revolution der Musik ebenfalls zu einer Revolution der Geschlechterverhältnisse geführt hat und die Vicario als erfolgreiche Sängerin ebenfalls dazu verholfen haben dürften, die zu sein, die sie heute ist.
Vicario drängt diese gesellschaftspolitische Komponente jedoch nie in den Vordergrund, sondern kümmert sich vor allem um die emotionale Befindlichkeit ihres Mädchenchores, streut Melodramen mit nächtlichen Treffen genauso ein wie das makabre Verhalten eines jungen Mannes, der eines der Mädchen verführt, ohne sein Versprechen zu halten.
Das ist nett anzusehen, ist aber in der Inszenierung von Vicario auch ein wenig zu beliebig, weil die dramatischen Stellschrauben völlig erratisch mal angezogen und dann wieder gelockert werden und das eigentliche Drama um den Besuch des Papstes ein wenig überstrapaziert wird. Dafür trösten dann jedoch immerhin die musikalischen Einlagen hinweg, die gerade im Wettstreit der beiden musikalischen Stile Spaß machen und nicht nur musikalisch, sondern auch über eine schwelgerisch operierende Kamera großes Kino sind.
Dass Gloria! im Wettbewerb der Berlinale lief, ist vielleicht die größte Irritation dieses kleinen, aber feinen Films, der nichts Innovatives oder Überraschendes bietet, der beschwingtes Feelgood-Kino im historischen Korsett ist, ein Film, den man gerne sieht und auch nach ein paar Monaten noch nicht vergessen hat. Was dann tatsächlich für den Besuch dieses Filmes spricht, der ganz ohne Ernst und Schmerz natürlich zeigt, dass es mit der Selbstermächtigung der Frau und der Macht der Musik schon viel früher begonnen hat, als die meisten es glauben und dass es bis zu dem, was wir heute haben, dann allerdings auch viel länger gebraucht hat, als die meisten denken.