Deutschland 2019 · 91 min. · FSK: ab 0 Regie: Sophie Kluge Drehbuch: Sophie Kluge Kamera: Reinhold Vorschneider Darsteller: Henriette Confurius, Max Krause, Inga Busch, Ulrike Arnold, Blixa Bargeld u.a. |
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Ohne Lügen leben und sagen können, was man denkt... |
In den nächsten Monaten wird uns eine ganze Reihe von Filmen junger deutscher FilmemacherInnen erreichen, die ohne den #MeToo-Tsunami nach dem Weinstein-Skandal wohl kaum denkbar gewesen wären. Filme, in denen Frauen fast jeden Alters und fast jeder sozialen Schicht einfach nur noch raus wollen: aus ihren Verhältnissen, ihrer Beziehung, ihrem Status, ihren Abhängigkeiten und (eigenen) Erwartungshaltungen.
Einer der stärksten Filme dieses thematischen Filmensembles ist Sophia Kluges Golden Twenties, die eindringliche Coming-of-Age Geschichte der Mittzwanzigerin Ava (Henriette Confurius), die nach einem Studium im Ausland wieder zu Hause bei ihrer Mutter landet und mit dem distanzierten Blick dessen, der im Geist noch in der Fremde wandelt, auf ihr altes Umfeld und ihre Zukunft blickt. Ein wenig wie Tom Schilling vor sieben Jahren in Oh Boy ist auch Ava eine Verlorene, die mit traumwandlerischer und transzendentaler Gewissheit durch Berlin flaniert. Die nicht wirklich am Abgrund steht, auch wenn ihr Leben ungeahnte Abgründe aufweist.
Dabei sind diese Abgründe völlig alltäglich. Es ist das zweite Leben ihrer Mutter, die sich plötzlich mit einem wesentlich jüngeren Mann von ihrem alten Leben und irgendwie auch von ihrer Tochter emanzipiert hat, eine Entwicklung, die bei früheren Generationen normalerweise umgekehrt verlief. Es sind aber auch die Freunde und Beziehungen ihrer Mutter, über die sie beruflich wieder Fuß fassen soll, und die eine fast schon ernüchternde Klarsicht gegenüber dem »wahren« Leben einfordern. Doch Sophie entzieht sich den aufziehenden Konflikten durch Bewegung, durch ein Vorantasten zum nächsten Bezugspunkt, zur nächsten Begegnung, zum nächsten Ort, um auch dort wieder am Puls unserer Gegenwart zu horchen, um so etwas wie Gewissheit für die eigene Zukunft zu gewinnen.
Das mag im ersten Augenschein ein wenig »dekadent« wirken, denn es scheint fast, so, als ob sich hier niemand tatsächlich ums Geld kümmern muss, die Abgründe eigentlich Micky-Maus-Schluchten sind, rein theoretischer Natur, nichts als Selbstverwirklichung auf den Lebensinseln Liebe, Sex und Beruf. Dennoch wird selbst in diesem bildungsbürgerlichen Umfeld deutlich, dass hier eigentlich niemand, wie der Soziologe und Philosoph Arno Plack einst schrieb, mit Lügen leben will, sondern eher wie Karl Ove Knausgård, sagen will, was er denkt und meinetwegen auch zu gehen, wenn das keiner hören will.
Doch weil das – bis auf Sophie – niemand tut, ist Kluges Kritik an unserer Gegenwart deutlich pointierter und schärfer als die von Jan-Ole Gersters Oh Boy. Denn Kluge zeigt bei aller Nonchalance neben der Sehnsucht nach der letztendlich unerfüllten Aufrichtigkeit immer wieder gnadenlos die aufgesetzten Gefühle unseres Alltags, die täglichen Maskeraden, die Lügen des Lebens im Privaten wie im Institutionellen, selbst und vielleicht gerade in der Welt des Theaters.
In präzisen, wunderschön-melancholischen Momenten geht Kluge mit ihrer großartigen Hauptdarstellerin Henriette Confurius, deren Blick auf die Welt man sich schon in Dominik Grafs Die geliebten Schwestern kaum entziehen konnte, aber noch einen Schritt weiter, denn Kluge arbeitet sich nicht nur an der Elterngeneration und beruflichen Desillusionierungen ab, sondern bezieht mit fast lyrischer Verdichtung und betont zurückhaltend komödiantischen Anteilen auch die verzweifelte Suche ihrer eigenen Generation nach einem Mittelpunkt und nach glaubwürdigen Rollen mit ein.
Eine junge Frau sucht ihren Weg. Anhand von dieser einfachen Geschichte erzählt die Berliner Regisseurin Sophie Kluge von der Generation der Endzwanziger und dem Verhältnis zu einer Elterngeneration, die manchmal infantiler wirkt, als die Jungen. Kluges Debüt Golden Twenties ist nur einer von vielen neuen deutschen Filmen, die im deutschen Kinosystem Outsider sind: Ohne Besuch einer Filmhochschule und ohne deren Geld produziert. Ohne Fernsehsender. Mit
vergleichsweise geringen Fördermitteln ausgestattet.
Diese Unabhängigkeit macht den Film zu einem Juwel im Einerlei des deutschen Kinos.
Dies ist eine Komödie. Eine Komödie für Erwachsene, also nicht immer nur zum Lachen. Sie erzählt von einer jungen Frau auf der Suche. Aber was sucht sie? Sich selbst schon mal nicht, im Gegenteil hat diese Ava sich selbst längst gefunden. Selten wirkt sie verloren, eher wie der stabile Fels in einem Strom aus Unsicherheit und Wandel. Ava bewirbt sich, will arbeiten, ist optimistisch, aber oft genug prallt sie an die weichen Wattewände der ganz alltäglichen Absurdität.
Jetzt ist sie gerade wieder in die Altbauwohnung ihrer Mutter gezogen, aber nur kurz, und so richtig hat die Mutter gar keinen Platz mehr für sie. Die Eltern des Großbürgertums wollen die Kinder lieber auf Distanz halten und jedenfalls nicht zuhause herumlungern haben; sie brauchen ihre Freiheit um sich selber wieder ein bisschen infantil zu geben. Distanz will Ava aber auch selbst. Aus guten Gründen.
Die Regisseurin Sophie Kluge zeigt sich in ihrem Debüt als sehr genaue Beobachterin, als sensible Erzählerin. Es liegt nahe zu vermuten, dass Kluge auch eigene Erfahrungen in ihren Film hineinwebt, dass sie persönlich genau kennt, wovon sie in kleinen Szenen erzählt. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtiger ist: Ava – herausragend und dabei zurückgenommen gespielt von Henriette Confurius – ist die Repräsentantin einer ganzen Generation.
Mit Jan-Ole Gersters Welterfolg Oh Boy haben viele Golden Twenties nach seiner Münchner Premiere vor ein paar Wochen verglichen. Das ist ein Kompliment, und nicht ganz falsch, denn Ava ist auch eine Drifterin, allerdings notgedrungen. Aber richtig zutreffend ist der Vergleich darum eben auch wieder nicht. Im Gegenteil: Denn Ava ist kein Hipster, keine
haltlos Suchende, die fortwährend mit den ermüdenden Ansprüchen der Eltern und anderer Erwachsener bombardiert würde.
Vielmehr sind es die Erwachsenen, die hier haltlos sind, die nicht wissen was sie wollen, und die Ava auf ihrem graden Weg zu Kurven und Umwegen zwingen. Die ihr fortwährend Ratschläge geben, gute und dumme.
So wirkt Ava oft genug als die reifste Person im Raum, eine Erwachsene, die mitunter etwas melancholisch wirkt, angesichts der kindischen Eltern, aber dann auch wieder nachsichtig – denn es sind ja nur Erwachsene.
Auch die Altersgenossen helfen nicht. Sie steuern weitgehend haltlos in spießige Normalität und Langeweile.
Golden Twenties ist nur einer von vielen neuen deutschen Filmen, die zur Zeit ins Kino kommen und die in ihrem Charakter, ihrer Machart wie den Geschichten, klassische Outsider sind: Ohne Besuch einer Filmhochschule und ohne deren Geld produziert. Ohne Fernsehsender. Mit vergleichsweise geringen Fördermitteln ausgestattet. Schon deshalb nicht satisfaktionsfähig für die Möchtegerngroßen des deutschen Kinos.
Andere deutsche Filme verklären die Jugend der Mittzwanziger gern als »Beste Zeit«. Sophie Kluge hat mit derartiger Verlogenheit nichts gemein. Sie schildert eine junge Frau, der es nichts nutzt erwachsen geworden zu sein, der es nichts nutzt studiert zu haben, und die sich auch sonst den Werten und der Vorstellungswelt der Erwachsenen zwar keineswegs entgegenstellt oder auch nur verweigert. Sie haben ihr nur schlicht nichts Substantielles zu sagen.
Henriette Confurius dabei zuzusehen, wie sie selbst neben sich und ihrem eigenen Leben steht, nicht andocken kann, ist ein – manchmal nicht ganz schmerzfreies – Vergnügen.
Was ist das für ein Film? Eine Komödie – in jedem Fall. Und zwar eine hervorragende. Aber keine Beziehungskomödie: Nicht jeder Topf findet hier seinen Deckel, im Gegenteil fallen einigen die Tassen aus dem Schrank.
So ist Golden Twenties eine ungemein anregende Überraschung. Ein tolles Debüt und ein ungewöhnlicher, sehr sehenswerter Film.