Green Border

Zielona granica

PL/F/CZ/B 2023 · 152 min. · FSK: ab 12
Regie: Agnieszka Holland
Drehbuch: , ,
Kamera: Tomasz Naumiuk
Darsteller: Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Tomasz Wlosok, Behi Djanati Atai, Mohamad Al Rashi u.a.
Filmszene »Green Border«
Von Mensch zu Mensch....
(Foto: Piffl Medien)

Draußen vor der Tür

Agnieszka Hollands so brutales wie nüchternes Flüchtlingsdrama überzeugt vor allem durch seinen multiperspektivischen Ansatz

»Und hinter allem? Hinter allem, was du Gott, Strom und Stern, Nacht, Spiegel oder Kosmos und Hilde oder Evelyn nennst – hinter allem stehst immer du selbst. Eisig einsam. Erbärm­lich. Groß. Dein Gelächter. Deine Not. Deine Frage. Deine Antwort. Hinter allem, unifor­miert, nackt oder sonstwie kostü­miert, schat­ten­haft verschwankt, in fremder fast scheuer ungeahnt gran­dioser Dimension: Du selbst. Deine Liebe. Deine Angst. Deine Hoffnung.« – Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür

Ein Film sollte natürlich vor allem für sich sprechen. Doch da Agnieszka Hollands Green Border kurz nach seiner Auszeich­nung mit dem Spezi­al­preis der Jury in Venedig seinen Start in polni­schen Kinos hatte, wurde Hollands Film fast augen­blick­lich zu einem Politikum. Denn in Polen fanden im Oktober Wahlen statt und vor diesem Hinter­grund bot sich Hollands Polen-kriti­scher Film fast schon ideal als Wahl­kampf­in­stru­men­ta­rium an. Holland wurde von den höchsten Reprä­sen­tanten des Staates Verrat am Vaterland und NS-Propa­ganda im Stil von Joseph Goebbels und Leni Riefen­stahl vorge­worfen, was die Oppo­si­tion und spätere Siegerin der Wahlen unter Donald Tusk als »wider­liche Kampagne« bezeich­nete, mehr noch, als wohl keiner der Kritiker den Film gesehen habe.

Sieht man sich Hollands Film dann tatsäch­lich an, wird schnell deutlich, dass es sich bei Green Border um alles andere als Propa­ganda handelt. Ganz im Gegenteil versucht die große alte Dame des polni­schen Kinos, die nach ihrem Silbernen Bären 1981 mit Fieber (Gorączka) kurz vor der Verhän­gung des Kriegs­rechts in Polen nach Paris migrierte und seitdem dort, aber auch regel­mäßig in den USA gedreht hat, allen Perspek­tiven der Flücht­lings­krise an der Grenze zwischen Belarus und Polen gerecht zu werden.

In strengem Schwarz­weiß gefilmt, beginnt Holland ihre Erzählung im Jahr 2021, als die vom bela­rus­si­schen Staats­ober­haupt Aljaksandr Luka­schenka orches­trierten und von Putin wohl­wol­lend befür­wor­teten Flücht­lings­ströme aus Syrien und Afgha­ni­stan vermehrt über die polnische Grenze umge­leitet wurden, um das westliche Bündnis einmal mehr zu desta­bi­li­sieren. In kargen, doku­men­ta­ri­schen Bildern folgt Holland einer Gruppe von Flücht­lingen, die von Schlep­pern und bela­rus­si­schen Soldaten bis an die polnische Grenze geleitet wird, um dann als »lebende Geschosse« mit dem Gren­zü­ber­tritt den Rest zu erledigen.
Genau diese – erwünschte – Perspek­tive nehmen dann auch die polni­schen Grenz­be­amten ein, die sehr schnell instru­iert werden, gegen die eigenen und EU-Richt­li­nien zu verstoßen, und mit gnaden­losen, gewalt­tä­tigen Push-Backs die Flücht­linge über den Grenzzaun zurück­treiben.

Für dieses so groteske wie völlig unmensch­liche Katz- und Mausspiel nimmt sich Holland fast etwas zu viel Zeit, gerät der Film drama­tur­gisch immer wieder ins Stocken, was auch daran liegt, dass diese Bilder des Grauens medial bereits stark ausge­wertet wurden, also bekannt sind.

Doch in dem Moment, in dem sich Holland der Binnen­per­spek­tive auf der polni­schen Seite annimmt, wird Green Border immer span­nender, steht nicht nur mehr die Politik am Pranger, sondern sind es die Einzel­bio­gra­fien der »Täter«, der Grenz­be­amten, die fast ebenso erschüt­tern wie die der »Opfer«, werden intra­fa­mi­liäre Span­nungen doku­men­tiert und der zuneh­mende Alko­hol­konsum genauso in die multi­per­spek­ti­vi­sche Erzählung einge­bunden wie die zarte Pflanze des Wider­standes gegen die Direk­tiven von oben.

Neben diesen ambi­va­lenten Porträts konzen­triert sich Holland aber auch auf die sich zunehmend formie­renden polni­schen Protest­gruppen, die nicht nur mit Aktionen zivilen Unge­hor­sams auf die Krise aufmerksam machen, sondern auf einem schmalen recht­li­chen Grat versuchen, Flücht­linge zu retten, also in Sicher­heit zu bringen, ohne sich selbst zu gefährden. Hier gelingt es Holland hervor­ra­gend, die eingangs porträ­tierte Flücht­lings­gruppe in ihr Narrativ einzu­binden und die begon­nenen Biogra­fien konse­quent weiter­zu­er­zählen. Damit erklärt sie nicht nur explizit, wie Akti­vismus in unserer Gegenwart funk­tio­niert, ja funk­tio­nieren muss, sondern macht mit einem letzten Schwenk in die Zukunft deutlich, dass nicht nur jede Nation die Nächste sein kann, die zum Flüch­tenden wird, sondern dass hinter jedem Betei­ligten nicht nur stereo­type Täter- und Opfer-Narrative stehen, sondern es am Ende immer Menschen sind, die andere Menschen suchen, um irgendwie und auch vor sich zu überleben.