Großbritannien/USA 2012 · 129 min. · FSK: ab 12 Regie: Mike Newell Drehbuchvorlage: Charles Dickens Drehbuch: David Nicholls Kamera: John Mathieson Darsteller: Jeremy Irvine, Ralph Fiennes, Helena Bonham Carter, Holliday Grainger, Robbie Coltrane u.a. |
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Die Schöne ist das Biest: Estella |
Wenn man ein Kind ist, ist die Welt voll großer Erwartungen, voller Abenteuer und Geheimnisse. Fremd, bedrohlich, verheißungsvoll. Das gilt für jeden, besonders aber für Pip, den Helden von Charles Dickens' wohl bestem Roman, und damit dem Helden dieses Films: Pip ist eine typische Dickens-Figur: Ein Junge, der als Waisenkind zu Verwandten kommt, dort arm aufwächst, als Schmied im Marschland des Themse-Deltas, und dann durch viele Wirren sein Glück findet.
Wir befinden uns im 19. Jahrhundert, im frühen Viktorianischen Zeitalter – das britische Empire ist auf seinem Höhepunkt – wovon die einfachen Leute allerdings wenig merken. Sozialfürsorge gibt es nicht, der Staat ist ein Zwangsapparat, wenn man Glück hat, haben die Menschen Moral, aber meistens hat man Pech.
Wenn Pip mal nicht arbeiten muss, dann schleicht er sich auf dem Damm, am Galgen vorbei, zum Friedhof, wo das Grab seiner Eltern liegt. Eine Welt vom Tod umgeben. Und dort auf dem Friedhof passiert es eines Morgens: Sträflinge sind ausgebrochen, geflohen von einer der Galeeren auf der Themse. Einer hat sich auf dem Friedhof versteckt, er wirkt so gefährlich wie verzweifelt, und Pip hilft ihm, halb aus Angst, halb aus Mitleid. Bald ist der Flüchtling trotzdem wieder eingefangen, aber er wird Pip nicht vergessen, und Schicksal spielen in seinem Leben.
Roman wie Film (im Original: »Great Expectations«) handeln also vom Schicksal, von Hoffnungen, die immer wieder enttäuscht werden, von Verzweiflung, die sich wenden wird, von Liebe und Zufall, davon, dass nichts sicher ist, und wir alle in der Hand sind der Launen des Schicksals und derer der Mitmenschen, die Schicksal spielen. Denn das tun viele in dieser Geschichte: Zum Beispiel die reiche Miss Havisham. Sie lädt Pip ein in die dunklen Zimmer, in denen sie haust, um ihrer
Adoptivtochter Estella ein Spielgefährte, zu sein, oder eigentlich mehr ein kostbares Spielzeug, wie Estella selbst ein Spielzeug für die alte Frau ist, ein Automat, gebaut, um Rache zu nehmen. Im Haus von Miss Havisham, die dort wahnsinnig geworden in ihrem am Leib zerfallenden Hochzeitskleid wohnt, lernt Pip mehr kennen. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die Liebe zu Estella, aber auch sich selbst: Denn Estella, so schön wie verzogen, hält Pip einen Spiegel vor, und plötzlich
sieht er, wie grobschlächtig und gewöhnlich er ist. Doch dann verändert sich alles: Pip wird von einem Gönner besucht, bekommt Geld und Bildung soviel er will, zieht nach London, und will sich zum Gentleman wandeln. Denn dann, so hofft er, wird er gut genug sein für Estella.
Doch der Aufstieg wird bald wieder zum Abstieg: Pip wird seine Moral verlieren, sich selbst verlieren, sein Geld verlieren. Und Estella sowieso.
Vor 15 Jahren, 1997, verfilmte Alfonso Cuaron, den Roman zum letzten Mal. sehr zeitgemäß in die Jetztzeit versetzt, mit Ethan Hake und Gwynneth Paltrow, den Stars der Stunde. Bald darauf drehte er einen von sieben Harry-Potter-Filmen. Mike Newell hat auch einen Harry-Potter-Film gedreht. Und wie der Zufall der Filmindustrie spielt, hat jetzt er die »Großen Erwartungen« für die Leinwand adaptiert: Mit Stars wie Helena Bonham Carter und Ralph Fiennes in den Nebenrollen, und unbekannten, frischen Gesichtern für die Hauptfiguren. Newell hält sich viel strenger an die Vorlage. Sein Film ist ein Kostümfilm, opulent, aber die Pracht wird konterkariert mit Matsch und Dreck.
Die Kamera ist ständig in Bewegung, es wird dramatisiert, gezoomt, virtuos geschwenkt und gedreht. Insgesamt ist das so intensiv, wie eingängig konsumierbar – Große Erwartungen ist kein Film, der irritieren möchte, der sich im Hirn des Betrachters so einfräst, wie David Leans Schwarzweiß-Verfilmung des Romans das noch heute vermag.
Aber es ist ein guter Film, der den Betrachter nie langweilt, der dem Roman gerecht wird, seinen Bildern und
Figuren wie seinem Geist. Dickens' Vorlage wird erkennbar als ungemein zeitgemäß: Sie erzählt von Liebe und Zufall, aber auch vom schönen Schein, von Träumen und davon, dass alles im Leben seinen Preis hat.