USA 2014 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Jean-Marc Vallée Drehbuch: Nick Hornby Kamera: Yves Belanger Darsteller: Reese Witherspoon, Laura Dern, Thomas Sadoski, Michiel Huisman, Gaby Hoffmann u.a. |
||
Wandern als Rite de Passage |
»I’d rather be a forest than a street
Yes I would, if I could, I surely would
I’d rather feel the earth beneath my feet
Yes I would, if I only could, I surely would«
(Simon & Garfunkel, El Condor Pasa)
Die meisten wirklich guten Filme zeichnet aus, dass sie bis ins Detail gut sind. Und man sie gerade deshalb wieder und wieder sehen kann, weil jede Wiederholung eben keine Wiederholung, sondern ein neuer Film ist. Er ist neu, weil selbst die kleinsten Details durch ihren starken Strich zu einem eigenen Gemälde werden.
Das trifft auch auf Jean-Marc Vallées Der große Trip – Wild zu. Wild ist durch Reese Witherspoon eine schauspielerische Labsal, durch Nick Hornbys kongeniale Drehbuchadaption von Cheryl Strayeds Erinnerungen in eine packende Erzählung überführt worden und durch Yves Bélangers Kamera ein faszinierender Trip an den Rand amerikanischer Zivilisation. Wild zeigt aber auch die gelungene Transformation der Generation nach Woodstock, die sich ohne religiöse Rückzugsräume in einem kollabierenden politischen Umfeld ohne nennenswerte Übergangsrituale neue Wege suchen muss, um sich immer wieder neu zu verankern. Für Cheryl (Reese Witherspoon) ist das die Wanderung – ein zwar altes, seit Jahrhunderten weltweit als Pilgern anerkanntes Allheilmittel, doch in Wild erlebt es eine erstaunliche Neuschreibung. In einem zwar jungen, aber bereits gesättigten Genre – man denke nur an die aus fast jedem Blickwinkel in den letzten Jahren entstandenen modernen Pilgerfilme (z.B. Emilio Estevezs Dein Weg, Sean Penns Into the Wild, Coline Serreaus Saint Jacques... Pilgern auf Französisch oder John Currans Spuren) eine erstaunliche Leistung.
Das dürfte vor allem daran liegen, dass Vallées in Wild mehr als die eine Geschichte erzählt. Während Cheryls Wanderung wird angemesses assoziativ, wohl dosiert und perfekt arrangiert über Rückblenden eine weitere Narration eingewoben, in die wiederum eine dritte eingebettet ist. Es ist nicht nur Cheryls Kindheit, Jugend und der durch den frühen Krebstod der mit ihr symbiotisch verbundenen Mutter ausgelöste persönliche Zusammenbruch mit verheerenden Folgen, es ist auch die Geschichte von Cheryls Mutter Bobbi selbst, die zu einem schillernden erzählerischen Kern wird. Sieht man Laura Dern bei ihrer Interpretation dieser Rolle zu, möchte man so wenig in die Gegenwart zurück, wie Cheryl, für die ihre Wanderung auch eine vertrackte Befreiung aus einer an sich emanzipierten Mutter-Tochter-Beziehung ist. Das für Dern seit David Lynchs Blue Velvet (1986) charakteristische Lächeln, bei dem nie ganz klar ist, wo die Grenzen zwischen Ekel und Genuss verlaufen, wird hier zum tief sitzenden Symbol für eine neue Generation intellektueller und doch emotionaler Frauen, die sich zwar aus den alten patriarchalischen Strukturen noch nicht ganz haben lösen können, sich aber so weit davon befreit haben, dass es als Rollenmodell für die nächste Generation reicht. Dern zelebriert diese Transformation nicht, sie ringt sie sich in einer schauspielerischen Wahrhaftigkeit ab, die fasziniert, einen schaudern und schütteln lässt und zugleich tief berührt.
Doch Wild hat noch eine letzte, delikate Überraschung zu bieten, ein letztes Detail, dass es allein schon wert wäre, den Film ein zweites Mal zu sehen. Mit Beginn von Cheryls 1000 Meilen langer Wanderung den legendären Pacific Crest Trail entlang setzt Vallée dezent, aber dennoch präzise ein immer wiederkehrendes musikalische Motiv ein. Für den mit der populären Musik der späten 1960er Vertrauten dürfte schnell klar sein, um welchen Song es sich handelt, doch alle Vertrautheit wird im gleichen Moment negiert, denn was Vallée als spannungssteigerndes musikalisches Motiv immer wieder anspielt, wird mit dieser Verwendung ähnlich neu interpretiert wie Cheryl es mit ihrer Neudefinition des Pilgerns zur völlig persönlichen, intimen »Rite de Passage« tut. Doch auch jene, die Simon & Garfunkels »El Condor Pasa« bis dahin noch nicht gehört haben sollten, dürfte die Verwendung des 39 Sekunden langen Gitarren- und Mandolin-Intros einen faszinierenden Aha-Moment bescheren, wenn »El Condor Pasa« schließlich genau im richtigen Moment um seinen Vokalteil ergänzt wird.
Während der Western schon in der Frühzeit des US-Kinos prägenden Charakter hatte, entwickelte sich das Genre des Roadmovies – eine Modernisierung des klassischen Frontier-Gedankens – erst Ende der 1960er Jahren zu einer festen Größe im amerikanischen Filmschaffen. Die Weite und Mannigfaltigkeit des Landes waren wie gemacht, um aus der Spur geratene Protagonisten auf eine entbehrungsreiche, nicht selten tragisch endende Suche nach Freiheit und Identität zu schicken. Ridley Scotts Thelma & Louise gab dem lange Zeit vorwiegend männlich konnotierten Genre Anfang der 1990er Jahre neue Impulse, da hier zwei Frauen aus ihren festgefahrenen Verhältnissen ausbrechen und sich plötzlich in einem Abenteuer wiederfinden.
Eine Tendenz, die auch in jüngerer Zeit wieder verstärkt zu beobachten ist. So lief im April 2014 hierzulande der von John Curran verantwortete Erlebnisbericht Spuren an. Eine meditative, bildgewaltige Nacherzählung der strapaziösen Outback-Wanderung von Robyn Davidson, die 1977 von Alice Springs bis zur australischen Westküste marschierte (satte 2700 Kilometer) und dabei den Kontakt mit anderen Menschen auf ein Mindestmaß reduzierte. Im Sommer folgte schließlich das klamaukige Roadmovie Tammy – Voll abgefahren, das Susan Sarandon zwar in einer augenzwinkernden Variante ihrer „Thelma & Louise“-Rolle zeigt, vor allem aber damit beschäftigt ist, Hollywoods Comedy-Allzweckwaffe Melissa McCarthy einmal mehr als unangepasste Wuchtbrumme zu inszenieren.
Deutlich überzeugender fällt da schon die neue Regiearbeit des Kanadiers Jean-Marc Vallée (Dallas Buyers Club) aus. Mit Der große Trip – Wild adaptierte er die Bestseller-Memoiren von Cheryl Strayed, die 1995 ihr in Scherben liegendes Leben neu zu ordnen versuchte, indem sie, ohne große Outdoor-Erfahrung, zu einem Fußmarsch auf dem berühmt-berüchtigten Pacific Crest Trail aufbrach. Einem Fernwanderweg, der sich von der mexikanischen Grenze entlang der US-Westküste bis nach Kanada erstreckt. Angestoßen wurde die Verfilmung von Schauspielerin Reese Witherspoon, die nicht nur in der Hauptrolle zu sehen ist, sondern auch als Produzentin fungierte (ihre eigene Produktionsfirma Pacific Standard war zuletzt an David Finchers Ehethriller Gone Girl – Das perfekte Opfer beteiligt).
Die Konfrontation mit Wildnis und Einsamkeit als Ausweg aus einer persönlichen Krise ist sicherlich kein innovatives Filmkonzept, führt hier aber zu einer facettenreichen Reise in die Gedankenwelt der stark verunsicherten Hauptfigur. Anstatt auf große Gesten und schablonenhafte Plot-Volten zu setzen, arbeiten Vallée und Drehbuchautor Nick Hornby mit einer assoziativen, episodenhaften Erzählweise, die immer wieder zwischen Cheryls Erlebnissen im Verlauf der Wanderung und ihren schmerzlichen Erinnerungen changiert. Während viele Übergänge klar motiviert sind (vor allem durch bestimmte Musikstücke), werden manche Rückblenden eher willkürlich eingeleitet. Was allerdings nicht im Geringsten problematisch ist, da auch im wahren Leben Gedanken oftmals kommen und gehen, ohne dass sie einen bewussten Auslöser hätten. Eine Erfahrung, die auf einem langen Fußmarsch durch häufig menschenleere Landschaften gewiss noch stärker zum Tragen kommt.
Auch wenn sich die nach und nach entblätternden Gründe für Cheryls Desorientierung und ihren Aufbruch überaus tragisch gestalten, driftet der Film nur selten in sentimentale Gefilde ab. Entscheidenden Anteil daran haben nicht zuletzt die recht differenziert agierenden Darsteller. Etwa Laura Dern, die Cheryls Mutter Bobbi als leicht naive, zugleich aber auch ansteckend warmherzige White-Trash-Kämpferin spielt. Zusammengehalten wird das große Ganze von der überraschend wandlungsfähigen Reese Witherspoon, die problemlos zwischen Wut, Trauer, Entschlossenheit und Freude pendelt und der Protagonistin damit die nötigen Ecken und Kanten verleiht. Manchmal wirkt sie geradezu entwaffnend sympathisch, dann wieder erstaunlich schroff und in anderen Momenten glaubhaft in sich gekehrt.
Einen kleinen Dämpfer erhält das starke, trotz fehlender Drehbuchzuspitzungen spannende Frauenporträt, wenn der Film in den letzten Einstellungen eine konventionelle und reichlich überflüssige Glückserfahrung postuliert. Etwas mehr Mut zur Offenheit wäre an dieser Stelle wünschenswert gewesen.