Kanada 2003 · 110 min. · FSK: ab 0 Regie: Jean-François Pouliot Drehbuch: Ken Scott Kamera: Allen Smith Darsteller: Raymond Bouchard, David Boutin, Benoît Brière, Pierre Colin u.a. |
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Ziehen an einem Strang: Die Dörfler von Sainte Marie La Mauderne |
...lässt schon Lessing seine Emilia Galotti sagen. Verführung bringt die Menschen nicht nur dazu, gegen ihren ursprünglichen Willen zu handeln, sondern lässt sie diesen sogar vergessen. Verführer genießen eine unheimliche Macht, und nicht immer handeln sie zum Besten der Verführten. Das kann böse enden! Doch da es sich hier um eine leichtfüßige Komödie handelt, rechtfertigt das Ergebnis den Vertrauensmissbrauch.
Verführbarkeit kommt nicht von ungefähr, sie entsteht aus unerfüllten Bedürfnissen. Und wie es sich für ein Weihnachtsmärchen gehört: bis zum Ende der liebenswerten Provinz-Geschichte bleibt kaum eines ungestillt. Ein bisschen Eskapismus hin und wieder hebt das Gemüt. Vielleicht macht gerade das den Charme dieses schlichten (nicht seichten) Unterhaltungsfilmes aus: Der Komödie liegt ein Drama zu Grunde, dessen Thema auch hierzulande in der Luft liegt, nämlich Arbeitslosigkeit oder die Angst davor. Der Film gibt der Hoffnung Ausdruck, der Verlust des Selbstwertgefühls, der dem Verlust einer erfüllenden Aufgabe oft folgt, könne überwunden werden. Und er zeigt eine Gemeinschaft, in der das Individuum aufgehoben ist und angenommen wird. Wichtiger als die Wahrheit ist in La grande séduction die Geborgenheit.
Wenn es drauf ankommt, ziehen sie alle an einem Strang, die Bewohner des kleinen Ortes Sainte-Marie-la-Mauderne in Quebec, dem französischsprachigen Teil Kanadas. Das haben sie so gelernt, damals, als die Männer der Insel noch als Fischer arbeiteten, bevor die Fanggründe erschöpft waren. Inzwischen leben sie fast alle von staatlichen Zuwendungen: Arbeit haben eigentlich nur noch Ève von der Post, die die Wohlfahrtsschecks austeilt, der Bankangestellte Henri, der sie auszahlt, und die Wirtsleute, in deren Lokal ein Gutteil der Gelder landet. Schließlich hat man genug Zeit, um gemeinsam am Tresen die neueste Hockey-Übertragung zu verfolgen.
Als selbst der Bürgermeister den Ort verlässt, um im fernen Montreal als Polizist zu arbeiten, merkt das Schlitzohr Germain, dass etwas geschehen muss, wenn die Gemeinde eine Zukunft haben will. Und tatsächlich besteht die Aussicht, dass sich eine Plastikfabrik am Ort ansiedelt. Als wichtigste Voraussetzung verlangt der potentielle Arbeitgeber allerdings, dass ein Arzt in der Gemeinde ansässig ist. Ein glücklicher Zufall sorgt dafür, dass der Schönheitschirurg Christopher Lewis für einen Monat den Dorfarzt gibt – und die Bewohner setzen unter der Leitung Germains alles daran, ihn zum Bleiben zu bewegen. Sainte-Marie-la-Mauderne ist sogar bereit, sich mit der dort völlig unbekannten Sportart Kricket anzufreunden, die der Arzt so liebt – alles, um den jungen Mann zu verführen.
Es geht schließlich darum, mit dem Arbeitsplatz auch die Würde zurückzugewinnen. Nichts ist schlimmer, als austauschbar zu sein: Selbst Henri muss fürchten, durch einen Bankautomaten ersetzt zu werden. Doch die Plastikfirma schraubt ihre Anforderungen immer höher und verlangt Bargeld und eine Mindesteinwohnerzahl – auch der Investor will verführt werden. Germain und sein Mitverschwörer Yvon stehen vor ungeahnten Anforderungen. Dabei vergessen sie nicht, sich Christopher Lewis zu widmen. Durch das Abhören seiner Telefonate kennt man seine geheimsten Wünsche und müht sich nach Kräften, ihm entgegenzukommen.
Komödien wie diese scheinen nach einem einfachen Muster gestrickt: kleine Leute, denen es schlecht geht, schaffen es mit Witz und Verstand, ihre Situation zu verbessern und ein großes, gemeinschaftliches Ziel zu erreichen. Naheliegendes Beispiel sind hier englische Komödien à la Ned Devine. Besonders heiter werden solche Geschichten, wenn sie mit schrulligen Charakteren angereichert werden – und besonders formelhaft, wenn diese Figuren keine Persönlichkeit haben.
Doch dieser Gefahr entgeht Regisseur Jean-Francois Pouliot mühelos. Seinem ersten Spielfilm (zuvor hat er 15 Jahre lang Werbespots gemacht) liegt ein solides Buch zugrunde, als hätte Autor Ken Scott sich zu Herzen genommen, was Billy Wilder über eine gute Komödie sagt: Der Zufall darf Anstoß sein, die weitere Entwicklung sollte sich aus den Ereignissen selbst ergeben. Eines bewirkt das nächste – wie eine Reihe fallender Dominosteine. Dieser Initialzufall ist die Begegnung des frischgebackenen Polizisten und Ex-Bürgermeisters mit dem zugekoksten plastischen Chirurgen bei einer Verkehrskontrolle – statt einer Anzeige lässt der Arzt sich darauf ein, einen Monat auf der Insel zu verbringen. Alles weitere liegt bei den Dorfbewohnern.
Bis in die Nebenrollen werden hier hervorragende, in ihrer Heimat beliebte frankokanadische Darsteller eingesetzt, die bei uns weitgehend unbekannt sind. Pouliot war bewusst, dass ein Charakter wie Germain, der fortwährend lügt, dass sich die Balken biegen, sympathisch besetzt sein muss, um die dauernde »Modifikation der Wahrheit« erträglich zu machen. Raymond Bouchard ist dieser nostalgischem Träumer, dessen Erinnerung an die frühere Würde (und daraus folgende sexuelle Erfüllung) den märchenhaften Filmbeginn bestimmt. Gleichzeitig treibt er als Motor der Handlung handfest die Realisierung seines Projekts »Arbeit für alle« voran. Pierre Collin überzeugt als grantelnder Sidekick Yvon, der aus dem Örtchen nie herausgekommen ist. Und Benoit Brière (langjähriger Darsteller in einer Werbe-Serie Pouliots) als unterdrückter Bankmensch Henri vervollständigt das Dreieck der Intriganten, das David Boutin als naiven Städter und Arzt vom Zauber Sainte Maries zu überzeugen weiß. Die einzige, die sich nicht bemüht, ihn zu betören, ist die spröde Ève (Lucie Laurier) – und vielleicht macht sie gerade das so interessant. Die eigentliche Hauptrolle spielt aber der Ort selbst, die Idylle, die es zu retten gilt, das winzige Fischerdorf mit seinen nicht viel mehr als hundert Einwohnern und seinen Holzstegen an Stelle von Straßen. Gedreht wurde der Film in (englischsprachigen) Harrington Harbour am St.-Lorenz-Strom.
Bei Gute-Laune-Filmen wie diesen kommt es weniger darauf an, vom Happy End überrascht zu werden – auch einen James-Bond-Film besucht niemand mit dem nagenden Zweifel, ob es diesmal dem Helden wohl gelingt, die Welt zu retten. Spannend ist vielmehr, wie es zu einem befriedigenden Ende kommt, zumal wenn sich wie hier schon früh weitere Widerstände erkennen lassen. Denn wie lange hält ein Rockfan es durch, den Fusion-Jazz-Begeisterten zu spielen, wie oft kann dem Arzt schon ein Fisch an die Angel gehängt werden, um ihm zu einem Erfolgserlebnis zu verhelfen? Fünf Jahre lang wird sich die Komödie kaum durchhalten lassen. Und wie reagiert der Betrogene, wenn er alles durchschaut?
Abgesehen von der grundlegenden Unwahrscheinlichkeit (warum sollte eine Fabrik für Plastikgefäße ausgerechnet auf einer entlegenen Insel gebaut werden, die nur per Schiff oder Hubschrauber erreichbar ist), die aber einem Märchen gestattet sei, entwickelt sich die Geschichte überzeugend und handelt von liebenswerten Persönlichkeiten. Das kanadische Publikum wie das des Sundance-Filmfestival wusste das zu honorieren, und die Komödie war Abschlussfilm der »Quinzaine des Réalisateurs« in Cannes. Ab und zu sollte man sich vom Unterhaltungskino verführen lassen. Besonderen Spaß macht das mit der untertitelten Originalfassung, wenn man sich an der interessanten Färbung des Quebec-Französisch erfreuen kann.