Frankreich 2017 · 107 min. · FSK: ab 6 Regie: Robert Guédiguian Drehbuch: Robert Guédiguian, Serge Valletti Kamera: Pierre Milon Darsteller: Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Jaques Boudet, Anaïs Demoustier u.a. |
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Terrasse mit Aussicht |
Ein wahres Idyll bieten die ersten Bilder in Das Haus am Meer von Robert Guédiguian – die abgeschiedene Bucht von Méjean in der Nähe von Marseille, in den Calanques, von einem Eisenbahn-Viadukt überspannt, öffnet sich aufs Meer und birgt ein ursprünglich wirkendes Fischerdorf, mit einer beschaulichen Hafenmole wie aus dem Bilderbuch. Es ist momentan auch deswegen so beschaulich, weil hier nicht mehr viele leben, die meisten Häuser sind als Feriendomizile verkauft und stehen das Jahr über häufig leer.
Maurice ist einer der letzten, der geblieben ist und weiter sein einfaches Restaurant geführt hat, unterstützt von seinem Sohn Armand.
Mit Maurice werfen wir am Anfang von der Terrasse seines Hauses am Meer einen Blick auf dieses bedrohte Idyll, während er eine Entspannungszigarette raucht. Es wird für ihn jedoch der letzte Blick bei klarem Bewusstsein gewesen sein, denn ein Schlaganfall streckt ihn nieder, bannt ihn in den Rollstuhl.
Es ist somit ein Blick des Abschieds, so bedeutet uns der Beginn des Films, der eine wehmütige Stimmung heraufbeschwört. Zu dem pflegebedürftigen Vater kehren nun auch die Geschwister Armands zurück, Angèle, die eine Schauspielkarriere weggeführt hat aus der Heimat, sowie Joseph, der illusionslos auf sein Wirken als Gewerkschafter und als Universitätsdozent zurückblickt und seine halb so alte Freundin Béranger mitgebracht hat.
Es ergibt sich die typische Situation eines Wiedersehens von Familienmitgliedern, im Angesicht einer einschneidenden Veränderung, die krisenhafte Züge annimmt. Alte Konflikte und nicht verwundene Verluste drohen aufzubrechen: Angèle, die dem Vater und Armand nie verzeihen konnte, dass ihre Tochter bei einem Unfall in der Bucht ertrunken ist, Armand, der den Geschwistern unterschwellige Vorwürfe wegen ihres Weggehens nachträgt, Joseph, der sich genüsslich in seinen Zynismen ergeht und alle, vor allem seine junge Freundin, permanent vor den Kopf stößt.
Robert Guédiguian hat hier in Das Haus am Meer, seinem mittlerweile zwanzigsten Film, wieder die Stammschauspieler eingesetzt, mit denen er seit seinen ersten Filmen arbeitet: Angèle wird gespielt von Ariane Ascaride, die zudem die Ehefrau des Regisseurs ist, Gérard Meylan (gar ein ehemaliger Klassenkamerad Guédiguians) als Armand ist ebenfalls von Anfang an dabei, und Jean-Pierre Darroussin als Joseph immerhin seit dem dritten Film Guédiguians, Qui lo sa? aus dem Jahr 1985. Eine Szene aus diesem Film spielte mit den drei Akteuren an genau demselben Ort wie Das Haus am Meer, an der Mole in der Bucht von Méjean. Und Guédiguian montiert nun diese Szene in den aktuellen Film als Erinnerungsschnipsel seiner Protagonisten: das Familientreffen des Teams verschmilzt so mit dem auf der Handlungsebene in einem wunderbar magischen Kino-Moment, einem Moment der Cinephilie geradezu, in dem Guédiguians Kino seiner selbst gedenkt.
Der betroffen-erschrockene Kommentar Josephs / Darroussins über all die schrecklich(en) schönen Erinnerungen wird angesichts der Bilder der mehr als dreißig Jahre jüngeren Schauspieler unmittelbar greifbar.
Handelt es sich hier also um eine in Sentimentalitäten versinkende Selbstbespiegelung? Wird hier ein kulturpessimistischer Abgesang angestimmt auf die schöne heile Welt von einst, die nun zum Ausverkauf steht?
Nicht bei Guédiguian, dem politisch engagierten Humanisten, der sich immer kämpferisch für die sozialen Probleme des »peuple«, der kleinen Leute, eingesetzt und dabei nie den front populaire als einen front national verstanden hat.
Nicht nur, dass der air de famille, der die Akteure eint, ein unverkrampftes und gelöstes Spielen mit heiteren Momenten ermöglicht, das einen jenseits jeden Sentiments anzurühren vermag. Auch auf der Ebene des Plots gewährt Guédiguian seinen Figuren eine Entwicklung, die sie aus den auf ihre Vergangenheit fixierten Befangenheiten herauslöst.
Armand spürt zusammen mit Joseph zufällig drei in einer Felshöhle versteckte Flüchtlingskinder auf, die von einem gekenterten Boot stammen und wohl ihre Eltern verloren haben.
Ihr Impuls ist ein ganz anderer als der von den patrouillierenden Soldaten der Armee, die zur Wachsamkeit aufgerufen und Warnungen ausgesprochen haben. Wie Guédiguian letztlich die lokalen Probleme mit einem globalen Problem verbindet und solidarisches Handeln als ganz natürliches Verhalten sich ergeben lässt, das hat etwas Utopisches, es gelingt aber vollkommen ungezwungen und erwächst ganz selbstverständlich aus der zugrundeliegenden und mit großer Natürlichkeit aufgebauten existentiellen Situation seiner Protagonisten.
Es geht insgesamt um Traurigkeit, die sich nicht festklammert am Verlorenen, sondern sich in Nachdenklichkeit verwandelt und öffnet für andere, die auf das blickt, was bleibt, und auf das, was kommen könnte, vielleicht gar auf eine kommende Gemeinschaft jenseits der tradierten Lebensweisen.