USA 2000 · 112 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Almereyda Drehbuchvorlage: William Shakespeare Drehbuch: Michael Almereyda Kamera: John de Borman Darsteller: Ethan Hawke, Kyle MacLachlan, Sam Shepard, Diane Venora u.a. |
»The time is out of joint« – die Zeit ist aus den Fugen. Einer dieser ewig gültigen Sätze, die man um 1600 mit der selben Überzeugung gesagt haben muss, die man heute hineinlegen kann. Aber nur weil Weltschmerz uralt ist, muss er nicht weniger gültig sein.
Michael Almereydas Hamlet leidet an der Welt, wie es im Kino kaum je einer zuvor getan hat; er ist ein angry young man, glühend vor Verachtung und Verzweiflung, ein düsterer Racheengel, ein man on a mission.
Düster ist auch die Welt um ihn (düster wie in Almereydas New Yorker Vampirfilm Nadja): Von edel geschliffener Rohheit die Bilder, in tiefem Schwarz getränkt, finster erleuchtet von
einer inneren Korruption. Es ist was faul in den Chefetagen der Denmark Corporation; hinter der Fassade aus Chrom und Glas atmet die Luft Verrat und Tod.
Nachdem Kenneth Branagh zuletzt in einem großartigen Spiegelkabinett alle Facetten des Shakespeare-Stücks schillern ließ, entscheidet sich Michael Almereyda für eine nicht minder großartige, aber radikal konsequente Lesart. Es ist zugleich ein tiefst romantischer und hochmoderner Hamlet, der mit kompromisslosem Ernst zur Sache geht. Selbst Erzkomödiant Bill Murray als dauer-kalauernder Pollonius lässt da eine stete Melancholie mitschwingen; des dänischen Prinzen vorgetäuschte Irrsinns-Nummer ist auf ein Minimum reduziert, die clowneseke Totengräberszene gestrichen (mit ihr aber auch, alas, poor Yorick), wie auch das verbale Sparring mit Osric – der hier kein junger, trotteliger Höfling ist, sondern der sichtlich hinfällige Kult-Regisseur Paul Bartel in seinem letzten Auftritt als Schauspieler.
Elegisch die Bilder, elegisch der großartige Soundtrack (für Klassik-Kenner voller Hamlet-Zitate), voll Zorn, Trauer, Kraft das Spiel des exquisiten Ensembles. Und bei aller Hoch-Emotionalität doch auch ein ungemein intelligenter, durchdachter Film: Voll vorgefertigter Bilder, voller Zitate ist die Welt, durch die sich dieser Hamlet bewegt, ist das New York im Jahr 2000. Alles scheint beherrscht von Kameras und Monitoren; der Titelheld selbst ist Videokünstler, der mit gefundenen
Bildern (auch denen früherer Hamlets) spielt. »Sein oder nicht sein?« ist hier keine Frage: Während Hamlet zwischen den Regalen einer Videothek noch grübelt, ob er Tod oder Tat wählen soll, kennen die Schilder um ihn herum längst die Antwort: »Action«.
Dabei ist an der Verpflanzung ins Heute nichts einfach nur clever, sondern stets auch klug – CEOs statt Königen, Amerikas Shakespeare Sam Sheppard als Hamlets spukender Vater, die »Mausefalle« nicht als Stück im Stück sondern als
Found-Footage-Videoclip im Film, die Schlussworte vom Nachrichtensprecher (bewusstes Baz Luhrman-Zitat): Kein Detail bleibt da auf der Ebene eines bloßen Gags.
Selten war so klar, dass der heilige Shakespeare auch nur Text in einer Welt voller Texte ist, tausendfach rekombiniertes Geflecht aus Verweisen auf stets andere Dinge, korallenartiges Gewächs endloser Sinnablagerungen.
Und selten hat es jemand geschafft, diesen Text dennoch so lebendig an unsere heutige Welt zu verknüpfen.
»The time is out of joint« – einer dieser ewig gültigen Sätze.