Deutschland/Schweiz 2015 · 111 min. · FSK: ab 0 Regie: Alain Gsponer Drehbuchvorlage: Johanna Spyri Drehbuch: Petra Volpe Kamera: Matthias Fleischer Darsteller: Anuk Steffen, Bruno Ganz, Quirin Agrippi, Isabelle Ottmann u.a. |
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Let's get away! |
Die wenigsten dürften noch den 1880 erstmals erschienenen Klassiker von Johanny Spyri kennen, ein Buch, dass sich im Grunde immer noch gut vorlesen lässt, aber unter der Last erfolgreicher Verfilmungen kaum mehr eine Chance hat. Seit 1974 sind allein neun Zeichtentrickfilm-Umsetzungen erschienen, darunter die legendäre, auch in Deutschland ungemein erfolgreiche japanische Variante (1974). Weit früher setzten die Spielfilme ein. Mit der Stummfilmfassung von Frederick A. Thomson 1920 entstanden allein elf Heidi-Ableger.
Was natürlich fast zwangsläufig zu der Frage führt, ob es wirklich noch eine 12. Filmfassung braucht. Nach all den Filmen und Serien und ohne Alain Gsponers neue Heidi gesehen zu haben, scheint die Frage einfach zu beantworten: bitte nicht noch mal!
Aber nein, so einfach ist es auch diesmal zum Glück nicht, schafft es das Medium Film mal wieder viel besser als das Leben, einen zu überraschen. Denn Alain Gsponers Heidi ist nicht nur ein toller Familienfilm für Kinder ab 5 bis hin zu Großeltern, die so alt wie der Alpöhi sind, nein, Gsponers hat mit Petra Volpes Drehbuch eine Heidi aus der literarischen Vorlage destilliert, die sich endlich wieder einmal an den Mut von Spyris Buch erinnert.
Denn Heidi ist im Grunde nichts anderes, als der ewige Wunsch des Aufbegehrens, der urwüchsige Drang, gegen die kleinbürgerliche Enge zu rebellieren. Was Easy Rider für die Generation der 1960er war, ist gewissermaßen die literarische »Heidi« für viele andere Generationen gewesen, eine rebellische Vorlage, der sich Gsponer und Volpe nun angenommen haben: Diese »Heidi« ist nicht das den meisten bekannte naive Kindchen, ein Synonym Schweizer Edelkitschs, nein, die wirkliche »Heidi« ist ein von den verstorbenen Eltern zurückgelassenes Kind, dass erst von einer Tante großgezogen wird. Als diese aus der Armut der Bergregion in die große Stadt Frankfurt migriert, bringt sie Heidi zu ihrem Großvater auf die Alm, einem schwer traumatisierten Mann, der sich anfänglich weder des Kindes noch irgendwem annehmen will. Dieser Mann hat mit der Menschheit abgeschlossen, vor allem jener aus dem Dorf, in dem vor allem Neid und Missgunst den Alltag beherrschen. Eine Geschichte also, die bis hierhin auch heute noch geschrieben werden kann, denkt man etwa an die zerrissenen Familien in den Armenhäus
ern Europas wie der Republik Moldau oder Mazedonien, wo ebenfalls nur die Kinder und Alten zurückbleiben, damit ihre Eltern ihr Glück in den reichen Metropolen der Welt machen können. Zu Heidis Zeiten ist das Frankfurt. Anders als die Kinder Moldaus darf Heidi allerdings nach Frankfurt nachkommen. Doch was sie dort erlebt, ist dann doch zu viel des »Culture Clashs«, entfacht ein Aufbegehren und reißt gewissermaßen die gute Gesellschaft, das Establishment, gleich mit.
Hoch anzurechnen ist Gsponer dabei nicht nur, dass er sich nie dem verlockenden Kitschangebot der Naturlandschaft und des Landlebens verpflichtet fühlt, sondern auch hier klare Grenzen aufzeigt, unter die Oberfläche guckt. Das setzt er in den Frankfurter Passagen fort und vermeidet hier wie dort auch noch einen nur allzu gern bedienten Pathos. Unterstützt wird er dabei von einem Ensemble an Schauspielern, die Spyris literarischen Geist bis in Kleinste delikat umsetzen – allen voran ein herrlich grummelnder Bruno Ganz als Alpöhi und mit einem gravierenden Spiel aus Licht und Schatten Anuk Steffen als Heidi. Aber auch die Nebenrollen überraschen durch ihr gleichermaßen hohes Niveau – herrlich linkisch spielt Quirin Agrippi den Geissenpeter und endlich einmal ohne jegliche Vulgarismen kommt Jella Haase als Dienstmädchen aus. Wie nah uns dieses Buch, diese Geschichte, dieser Film aber nicht nur durch seine sozialen Mechanismen, sondern auch in seinen nur allzu menschlichen Dimensionen ist, zeigen dann auch die Repräsentanten der bürgerlichen Ordnung – Klara (Isabbelle Ottmann), ihr abwesender Vater (Maxim Mehmet) und die von Katharina Schlüter verkörperte Gouvernante Fräulein Rottenmeier.
Durch diesen wunderbaren Remix wird die neue, gar nicht mehr alte, für immer junge Heidi zu einem Film, der nicht nur berührt und immer wieder subtil mit der unfreiwilligen Komik menschlicher Transformationen spielt, sondern der auch den Mut hat, zu hinterfragen.