Schweden 2014 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Ruben Östlund Drehbuch: Ruben Östlund Kamera: Fredrik Wenzel Darsteller: Johannes Bah Kuhnke, Lisa Loven Kongsli, Clara Wettergren, Vincent Wettergren, Kristofer Hivju u.a. |
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Familienlawinenabgang |
Ein Familienfoto entsteht. Wir sehen den Vater, die Mutter, zwei Kinder – eine glückliche Familie im Ski-Urlaub. Die vier sind die Hauptfiguren dieses Films, Schweden, die in Frankreich ihre Winterferien verbringen. Ihnen scheint es an nichts zu fehlen: Sie sehen gut aus, ihr Hotel ist luxuriös, die Skiausstattung auf dem neuesten Stand, so modisch wie sicher – ein prototypischer Fall für den wohlhabenden Mittelstand Westeuropas, in deren Leben von Bankenkrise, Kursstürzen und Arbeitslosigkeit so wenig zu spüren ist wie von den Kriegen, Folter, Seuchen, Hunger und religiösem Fanatismus in der Welt.
Dieses Unsichtbare, vielleicht Verdrängte wird sich dennoch auf andere Weise und um so zwingender bemerkbar machen, später in diesem Film.
Zunächst zeigt Regisseur Ruben Östlund die Idylle. Tomas, Ebba, Harry und Vera genießen Schnee, Sauna und schicke Abendessen. Zugleich konterkariert Östlund diese Eindrücke immer wieder mit Bildern, die zumindest in dem Zusammenhang, in den sie gestellt sind, eine ironische, auch distanzierende Wirkung entfalten; Bilder der Routine, des Seriellen unser aller Daseins.
Wir sehen das Hotelpersonal, das eifrig, still, aber auch seltsam unberührt von den Gästen, nach ganz eigenen Gesetzen schaltet und waltet, das serviert, reinigt, räumt und den Ablauf der Tourismus-Maschinerie sichert. Wir sehen Drüsen, die künstlichen Schnee auf die Piste rieseln lassen, sehen die Pistenraupen, die in ihrem eigenen Rhythmus, wie ein seltsames futuristisches Ballett des Nachts dafür sorgen, dass die Touristen am nächsten Tag ideale Schnee-Bedingungen vorfinden.
Diese Maschinerie montiert der Regisseur parallel mit der Abendtoilette der Touristen – die Sequenz mündet in den Moment, an dem die komplette Familie vor dem Badezimmerspiegel steht, und sich mit elektrischen Zahnbürsten die Zähne putzt.
Und dann die Donnerschläge jener Kanonen, die kontrolliert Lawinen auslösen, geplante (Natur-)Katastrophen – also ein Widerspruch in sich. Einige Zeit später passiert, was die latent angespannte Atmosphäre schon ahnen ließ: Eine solche Lawine wird größer und heftiger als erwartet und rast – mit scheinbar desaströsen Folgen – auf die vollbesetzte Terrasse eines Cafés zu, in dem auch Tomas' Familie zu Gast ist. Ein Schock für die Beteiligten, auch für die Zuschauer, der sich zwar bald in eine Pulverschneewolke auflöst, aber doch untergründige Folgen hinterlässt. Die Idylle bekommt von nun an Haarrisse, immer deutlicher werden untergründige Spannungen in der Familie sichtbar, der Ton ist plötzlich gereizt. Die Kinder werden aufsässig, das Paar streitet. Offenkundig spielt hier die traumatische Erfahrung eine Rolle, dass alle für ein paar Sekunden dem Tod sozusagen ins Auge sahen – mag das auch objektiv übertrieben sein, trifft es subjektiv doch einfach zu. Weil der Urlaub aber weitergehen muss, wird das Erlebnis verdrängt statt verarbeitet.
Die tiefere Ursache ist aber weniger der Schock selbst als die Erfahrung, die Ebba, die Ehefrau gemacht hat: In dem Augenblick, in dem die Lawine die Café-Terrasse unter sich zu begraben schien, fühlte sie sich von ihrem Mann allein gelassen. Tomas flüchtete in Deckung, sagt sie, kümmerte sich scheinbar nicht um sie und die Kinder. Tomas selbst sieht das anders – und es liegt im Auge des Betrachters, welcher Version er hier folgt.
Man kann in diesem Tomas tatsächlich einen Mann sehen, der Schwäche partout nicht eingestehen kann, der im entscheidenden Augenblick egostisch handelt, immer Ausreden sucht, im Ernstfall einen weinerlichen Waschlappen – und damit einen in vielem typischen Repräsentanten des zeitgenössischer Männlichkeit.
Man kann aber auch Ebbas Reaktion in Frage stellen: Geschah alles wirklich so, wie sie glaubt, und selbst wenn – reagiert sie nicht über? Ist ihr Hadern mit dem
Gatten nicht etwas hysterisch?
Schließlich und vor allem aber tut sich die Frage auf: Sind solche Verhaltensweise am Ende vielleicht gar nicht selbstbestimmt, sondern liegen in einer Natur, die stärker ist, als das Individuum, und in der Männer sich abwiegelnd verhalten, ignorieren und Frauen, die Probleme machen, überreagieren?
Dies ist ein existentielles Drama, das den Betrachter, wenn man weiß, dass es aus Schweden stammt, fast zwangsläufig auch an die bürgerlichen Selbstzerfleischungsszenarien und Lebenslüge-Entlarvungsorgien eines Ingmar Bergman erinnert. Ähnlich konsequent ist auch dieser Film. Allerdings moralisiert er nicht, ist ironischer, kühler, ohne Furor. Östlund erzählt von der Katastrophe im Normalen, von der heimlichen Nähe von Tourismus und Terror. Im Rhythmus mehrerer Tage präsentiert Höhere Gewalt einerseits ein Klassenportrait, in dem breite Teile des Publikum sich problemlos selbst wiedererkennen werden: Schöne, gebildete, wohlhabende, übergesunde, allseits durchgecheckte und sicherheitsbesessene Menschen, die ihren Alltag routiniert managen, noch nie echte Probleme gekannt haben. Als die dann kommen, sind sie hilflos.
Dies ist aber auch einfach eine großartige Farce, eine Comedie humaine über das moderne Leben. Über eine moderne Gesellschaft, die unfähig ist, Dinge, die eben mal vorkommen, auch zu akzeptieren. Die stattdessen alle möglichen Geschehnisse zu etwas Grundsätzlichem erklärt, »zum Zeichen« und auf sie therapeutisch reagiert.
Eine Gegenwart die ihre Ängste nicht mehr zu kontrollieren vermag, nicht rational mit ihnen umgeht, sondern zunehmend von Panik erfasst und blockiert
wird – von Phantasmen, also der Panik vor dem nur vage Möglichen.
Selbst die Wahl des im Kino omnipräsenten Vivaldi und seiner »Vier Jahreszeiten« (zur Filmmusik) macht in dieser Hinsicht Sinn. Denn Ruben Östlunds Film erzählt anhand eines Mikrokosmos vom Ganzen: Er zeigt die Wohlstandsverhältnisse des frühen 21. Jahrhunderts als dekadentes, in sich überlebtes Ancien Régime. Ganz sachte, gewissermaßen über die Ränder kehrt das Verdrängte zurück.
Die »höhere Gewalt« des Titels kann Gott meinen, kann die bevorstehende politische Revolution meinen, oder einfach den Einbruch des Unverhofften ins geregelte Leben, Befreiung und Bedrohung zugleich. In jedem Fall aber meint »höhere Gewalt« eine Chiffre für die Ohnmacht des Menschen.
Schon die ersten Einstellungen in Ruben Östlunds Drama Höhere Gewalt, das 2014 in Cannes den Jurypreis in der Sektion »Un Certain Regard« erhielt, rufen merkwürdige Irritationen hervor. Auf einer Skipiste, vor traumhafter Kulisse, posiert eine Familie für fröhliche Urlaubsfotos. Während der übereifrige Fotograf immerzu neue Anweisungen erteilt, lässt sich der Eindruck nicht abschütteln, dass die Nähe zwischen den Eltern irgendwie erzwungen wirkt. Unnatürlich, seltsam befremdlich. Im Rückblick sind diese nur vermeintlich harmonischen Gruppenbilder der perfekte Auftakt für das, was den Zuschauer im Folgenden erwartet: das langsame Auseinanderbrechen einer schwedischen Mittelklassefamilie vor dem Hintergrund einer ungeahnten Gefahrensituation.
Tomas (Johannes Bah Kuhnke) und Ebba (Lisa Loven Kongsli) sind ein junges Ehepaar, das sich mit seinen beiden Kindern in einem schicken französischen Skiort vom Alltagsstress erholen will. Verläuft der erste Tag noch recht reibungslos, werden die Urlauber am zweiten Tag von einem unerwarteten Ereignis erschüttert. Bei einer kurzen Rast in einem Bergrestaurant beobachtet die Familie, wie in der Nähe eine Lawine kontrolliert ausgelöst wird. Ein faszinierendes Schauspiel, das sich allerdings binnen Sekunden in eine ernstzunehmende Gefahr verwandelt, da die Schneewalze direkt auf die Plattform zurast. Panik bricht aus, und Ebba wirft sich schützend vor die Kinder. Tomas hingegen greift instinktiv nach seinem Smartphone, das er selbst hier, im Urlaub, ständig bei sich trägt, und lässt seine Liebsten für einen Moment im Stich. Obwohl die Lawine kurz vor dem Restaurant zum Stehen kommt, ist das familiäre Gleichgewicht fortan empfindlich gestört.
Um ihre Kinder vor Unheil zu bewahren, sind Eltern bereit, alles zu tun. So lautet ein Grundsatz, der nicht nur im von Heldenfiguren bevölkerten Filmuniversum, sondern auch im wahren Leben gilt. Kein Wunder also, dass sich Unverständnis und Entsetzen breit machen, sobald dieses selbstverständlich erscheinende Abkommen verletzt wird. Ebba kann nicht begreifen, warum Tomas in der Not seine eigene Sicherheit vor die der Familie stellt, gerade als Mann, der traditionell ein starker Beschützer sein soll. Unverkennbar spürt Östlund in seiner filmischen Parabel nicht nur der Frage nach, wie wir mit vermeintlich lebensbedrohlichen Vorfällen umgehen, sondern nimmt auch alte geschlechtsspezifische Rollenmuster in den Blick, die nach wie vor große Strahlkraft besitzen.
Die schwer erschütterte Ebba ist nicht bereit, die Geschehnisse unausgesprochen zu lassen, bringt die egoistische Entscheidung ihres Gatten mehrfach zur Sprache – selbst vor anderen Feriengästen – und wirft ihm unmännliches Handeln vor. Tomas wiederum verfällt zunächst in eine Verteidigungshaltung, flüchtet sich in die Vorstellung, die Eheleute hätten das Ereignis ganz einfach unterschiedlich wahrgenommen, droht jedoch zusehends an seiner aufgesetzten Selbstversicherung zu zerbrechen. Mehr und mehr entwickelt sich der Entspannungsurlaub zu einer ehelichen Kraftprobe, die nicht zuletzt dadurch Spannung erhält, dass die Kinder geradezu aggressiv-abweisend auf die Auseinandersetzungen ihrer Eltern reagieren.
Bemerkenswert ist vor allem, wie es dem Familiendrama gelingt, einseitige Schuldzuweisungen zu umschiffen und Verständnis für beide Parteien aufzubringen. Wirkt Tomas in seiner Verweigerungspose anfangs kalt und gleichgültig, entwickelt man irgendwann Mitgefühl für den zutiefst verunsicherten Mann. In Ebbas Fall verhält es sich genau umgekehrt. Erscheint die Ehefrau zunächst moralisch erhaben, wandelt sie sich schrittweise zu einer herablassenden Anklägerin, die ihren Partner gezielt auflaufen lässt. Um zu verstehen, warum der schwedische Regisseur diesen Mittelweg beschreitet, muss man sich eigentlich nur vor Augen führen, dass der Instinkt des Überlebens auch beim Menschen keine Grenzen kennt. Aus der Sicherheit des Kinosessels heraus lässt sich leicht behaupten, man selbst hätte verantwortungsvoller gehandelt als Tomas. Doch wer kann schon mit Sicherheit sagen, wozu die schwer greifbare Angst, die Panik uns verleitet, wenn wir ganz plötzlich einer realen Gefahr ins Auge blicken und zu Spielbällen einer höheren Gewalt verkommen?
Gespiegelt werden die philosophischen Überlegungen des Films in seiner strengen, sorgsam durchdachten Gestaltung. Erzählerisch ist Östlunds Werk in fünf Urlaubstage unterteilt, die jeweils mit einem Blick auf die Bergwelt, das Hotel oder die Skianlagen und einem wiederkehrende Musikthema aus Vivaldis »Die vier Jahreszeiten« eingeläutet werden. Zumeist herrschen lange, statische Einstellungen vor, die das Ganze in die Nähe einer Versuchsanordnung rücken, allerdings auf erstaunliche Weise mit der emotionalen Ausdruckskraft der provokanten Geschichte harmonieren – wie etwa die meisterlich inszenierte Lawinenszene unterstreicht, die trotz Green-Screen-Einsatz täuschend echt und mitreißend daherkommt.