DK/D/F/S 2022 · 119 min. · FSK: ab 16 Regie: Ali Abbasi Drehbuch: Ali Abbasi, Afshin Kamran Bahrami Kamera: Nadim Carlsen Darsteller: Zar Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Sina Parvaneh, Sara Fazilat, Arash Ashtiani u.a. |
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Eine Frau allein im Iran | ||
(Foto: Alamode) |
»Nach einer wahren Begebenheit.« Selten hat dieser inflationär gebrauchte Zusatz im Kino wirklich Bedeutung, oft soll er nur Erstaunen hervorrufen. Ach echt, ist wirklich passiert? Auch Holy Spider des Iraners Ali Abbasi ist mit dieser Endnote kurz vor dem Abspann versehen, was die fast zwei zurückliegenden Filmstunden als mindestens unbehagliche True Crime Story kennzeichnet. Wir müssen das Hinrichten von Frauen, die als drogensüchtige Prostituierte in den Straßen der iranischen Stadt Maschhad ihre Freier finden, also als bare Münze nehmen: Es ist wirklich passiert. Der Mordende, der Hinrichtende – in seinen Augen: der Richtende – muss also auf der ersten, wörtlichen und buchstäblichen Ebene verstanden werden. Er selbst verlangt das explizit, als er im Film schließlich vor Gericht steht und ihm eine Hintertür zum psychischen Irresein geöffnet wird: Nein, er habe bei vollem Bewusstsein getötet. Höchstens sei er verrückt nach Gott. Das alles ist sehr grausam und schwer auszuhalten.
Saeed ist ein einfacher Maurer, Familienvater von zwei Töchtern und einem älteren Sohn (der alsbald an der Heldenverehrung seines Vaters arbeitet). Als Angehöriger der unteren iranischen Schicht führt er ein einfaches Leben, aber er ist noch nicht ganz unten. Unter ihm, da sind die Drogenabhängigen, die Slumbewohner, die gesellschaftlich Abgehängten – und die Prostiutierten, die intersektionell auch alles davor Genannte sind. Ihr Leben, so findet Saeed, ist nichts wert, vor allem, weil sie gegen die heiligen islamischen Vorschriften verstoßen. Wie einen Werwolf, wie einen Dr. Jekyll überkommt »es« ihn regelmäßig, und er gabelt die Frauen mit seinem Moped im Viertel des Imam-Reza-Schreins auf, einer kunstvoll ornamentalen heiligen Grabstätte, um die sich die Gläubigen und Pilgersleute scharen. Das Erwürgen der Frauen verschaffe ihm Genugtuung, er reinige die Stadt, so sagt er vor Gericht. Und er werde es weiter tun, 200 Prostituierte habe er in Maschhad gezählt.
All is true: Die Morde an insgesamt 16 Frauen haben zu Beginn des Jahrtausends die heilige Stadt in Atem gehalten, in die tausendfach Pilger strömen und in der die Prostitution in den dunklen Gassen tatsächlich florierte. Der Täter wurde bekannt als »Spinnenmörder«, der die Frauen in seine Wohnung, oder sein »Netz«, schleppte, um sie dort mit bloßen Händen zu ermorden. Das hat auch die Kunst angeregt. 2018 erschien die Graphic Novel »Die Spinne von Mashhad« des iranischen Zeichners Mana Neyestani, der seit über zehn Jahren im französischen Exil lebt, und oft denkt man während des Films angesichts der nächtlichen Straßenszenen und vor allem des fein geschnittenen Gesichts der zweiten Protagonistin, der Journalistin Rahimi (Zar Amir-Ebrahimi), an einen anderen Graphic-Novel-Film, A Girl Walks Home Alone At Night der amerikanischen Exiliranerin Ana Lily Amirpour.
Auch Regisseur Ali Abassi, ein gebürtiger Teheraner, ist in jungen Jahren nach Europa gegangen, heute lebt er in Dänemark. Mit Holy Spider stellt er jetzt seinen dritten Film vor, der in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme gezeigt wurde und als überwiegend dänische Produktion als Kandidat für den Auslands-Oscar eingereicht und jetzt für die Vorauswahl nominiert wurde.
Wie in seinem verstörenden letzten Film Border wendet sich Ali Abbasi in seinem Neo-noir – die dunklen Straßenecken und verborgenen Innenräume sind von grün-blauem Licht durchzogen – dem unheimlich Monströsen der Existenz zu. Diesmal ist das Monster jedoch kein mythischer Troll, zu dem man als Zuschauer sogar noch Sympathien hegen kann. In Holy Spider zeigt sich im Täter die verzerrte Fratze einer fanatisch ausgeübten Religiosität, dessen filmisches Vorbild nur Travis aus Taxi Driver (1979) sein kann, ein Moralfanatiker, der New York »säubern« wollte. Oder nennen wir ihn Minos, wie den Serienmörder aus Henri Verneuils Angst über der Stadt (1975), der den »sexuellen Schlamm« wegschaffen wollte, den leichte Frauen über Paris brachten. Dennoch, und auch das wirkt verstörend, kommen wir Saeed sehr nahe, nehmen seine Perspektive ein.
Als wollte er sich dem filmischen Referenzsystem entziehen – es würde seinen Film wieder abstrakter machen – , inszeniert Ali Abbasi auffällig explizite Bilder. Die Armut der Stadt (gefilmt wurde im jordanischen Amman) wird in jeder Straßenecke und in jedem Wohnraum sichtbar. Der Putz bröckelt ab, und selbst für die iranische Gepflogenheit, direkt auf dem Boden zu sitzen, gibt es zu wenig Möbel, keine Decken und Kissen, nur die unbedingt notwendigen Teppiche. Die Frauen wiederum zeigen sich für iranische Verhältnisse unerhört körperlich und freizügig: Sie rauchen – je nach gesellschaftlichen Stand Zigaretten oder Opium –, zeigen ihr Haar, sind nackt, haben oder wollen Sex, als Ehefrauen mit ihrem Mann oder als Prostituierte mit ihrem Freier. Und es gibt Sex-Talk. Ständig werden die Frauen verbal belästigt, vor allem Rahimi, die als Journalistin aus Teheran nach Maschhad kommt, um über die Serienmorde zu berichten. Die Explizitheit ist programmatisch, Ali Abbas findet in ihr zu einer Poetologie des Unverhüllten und Unverborgenen. So konnte er nur im Ausland drehen, ohne iranische Gelder, mit Exil-Iranerinnen.
Zum äußerst unangehmenen und verstörenden Erlebnis wird Holy Spider, wenn auf unverhohlene Weise die brachiale, durch schiere Muskelkraft ausgeübte, archaische Gewalt des (mordenden) Mannes gegenüber der Frau gezeigt wird. Mehrfach werden wir Zeuge davon, wie Saeed seine Opfer, die Prostituierten, hinrichtet, während der dänische Stammkameramann Nadim Carlsen schonungslos draufhält und einfach kein Schnitt kommen will. Die ohnehin geschundenen Gesichter der Prostituierten laufen rot an, entstellt im Todeskampf, die Beine zucken bis zum letzten Moment. Hier ist alles physisch, wörtlich, real, hier wird nicht weggeblendet und auch nicht elliptisch inszeniert. All is true, all is there.
Und doch ist das Gezeigte universeller und damit auch metaphorischer, als die explizite Inszenierung es vordergründig suggeriert. Die transparent gemachte Motivlage des Mannes fußt auf der Wertegemeinschaft des schiitischen Iran und des islamischen Patriarchats, so ist es zumindest die Auffassung von Saeed. Und selbst wenn, wie in jedem Serienmörder-Film, der Täter am Schluss gerichtet wird: Es kann und lässt sich eine zweite, viel allgemeinere und umfassendere Ebene einfach nicht ausblenden, die sich vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse im Iran geradezu aufdrängt. So kann und muss jeder Femizid in Holy Spider auch das Niederschlagen der revoltierenden Frauen im Iran und ihre öffentlichen Hinrichtungen evozieren. Im Winter 2022/23 ist das Morden des Serienmörders plötzlich Allegorie für eine weitaus grausamere Gewalt: für das Ermorden der iranischen Frauen durch ihren eigenen Staat.