Großbritannien/GR 2023 · 91 min. · FSK: ab 12 Regie: Molly Manning Walker Drehbuch: Molly Manning Walker Kamera: Nicolas Canniccioni Darsteller: Mia McKenna-Bruce, Lara Peake, Samuel Bottomley, Daisy Jelley, Finlay Vane Last u.a. |
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Zuversicht im gegenseitigen Erkennen des Leids... | ||
(Foto: Capelight) |
Es gibt Orte auf der Welt, an denen wird mit Enttäuschung Geschäft gemacht. Dort lockt die Ekstase und entpuppt sich als Tortur. Ihr Dauerkonsum auf Zeit erschöpft sich in Gleichförmigkeit. Der nächste Kick führt wieder nur zum Versprechen eines noch größeren, dessen Glücksgefühl nie eingelöst wird oder schlimmer noch: das Gegenteil bewirkt. Die Britin Molly Manning Walker zeigt in ihrem Langfilmdebüt einen solchen Ort: An einem griechischen Touristen-Hotspot kommen Jugendliche aus aller Welt zusammen, geeint in biographischen Schwellenerfahrungen. Walker nähert sich einem Zustand, in dem hedonistische Lusterfüllung zum Mittelpunkt des Lebens erhoben wird. Als Aufgabe und selbst auferlegte Pflicht verlangt sie Disziplin und Widerstandsfähigkeit, will man die tagelangen Party-Eskapaden überstehen, nach denen man abgekämpft zurück in den Alltag kehrt.
Punkte, an denen der Exzess plötzlich etwas Bedrohliches und Erstickendes erhält, fängt dieser Film mit ergreifender, zyklischer Intensität ein. Feiern, Saufen, Tanzen, Flirten, Eskalieren – bis zum Morgengrauen. Kopfschmerzen, Frust, Übelkeit, Müdigkeit. Menschen erwachen hier und dort; ein Bett, wer braucht das schon? Grelle Farben der Nacht weichen der Tristesse des Tageslichts, das die Schneisen der Verwüstung zum Vorschein bringt. Vom Rausch ist nur der Müll geblieben: Abfall an den Straßenrändern, irgendwo blinkt noch eine Leuchtreklame. Also will die übrige Tageszeit gut genutzt sein, um abends wieder fit zu sein und sich erneut in das Hamsterrad der Feierkultur zu begeben. Verlässlich ist der Schmutz in den Straßen verschwunden, um gierig neuen aufzunehmen.
Dass solche Erlebnisse nicht ohne Verdrängung auskommen, macht Walkers Drama schnell deutlich. Alles, was der Illusion des Vergnügens im Wege stehen könnte, verbannt man aus den Gedanken – zunächst mit Leichtigkeit, dann immer beschwerlicher. Denn die Verdrängung funktioniert nur so lange, bis das Bad in der Menge dem Drang nach Privatsphäre, die Fantasie von Glück der Sinnlosigkeit weicht. Gerade hat man sich an einen ruhigen Ort zurückgezogen, da springt schon die Tür auf und schwemmt neue Menschen in die Komfortzone. Fremde vom Pool oder aus dem Club. Man versteht sich, obwohl man sich nicht kennt. Hier zählt weniger der Charakter als die gemeinsame Mission der Euphorie. Unmittelbarkeit lautet die Devise, ein Hier und Jetzt, in dem man sich kollektiv spüren und auflösen kann.
How to Have Sex besticht in diesem Streben nach dem Unmittelbaren mit einer direkten, intimen Form. Molly Manning Walker inszeniert weniger ein erzählendes als ein erfahrendes Kino, weniger ein schuldzuweisendes als ein beobachtendes, obwohl es überall mit kritischen Feststellungen gespickt ist. Die Bilder von Kameramann Nicolas Canniccioni suchen die Nähe der Gesichter, lösen Reaktionen aus ihrer verschwimmenden, chaotischen Umwelt. Sie durchstreifen Räume in wackligen, pulsierenden und klug kontrastierten Einstellungen und begeben sich mitten in das Gewühl aus Jugendlichen, die sich vielleicht zum ersten Mal als Herrscher ihrer eigenen Welt wähnen.
Eine solch radikale Nähe erfordert von dem Nachwuchs-Ensemble höchstes Ausdrucksvermögen. Gerade Mia McKenna-Bruce in der Hauptrolle weiß dieser Forderung mit beachtlichem Talent nachzukommen. Züge der Reife, auf ihr Umfeld zu schauen, sowie die völlige Überforderung und Erschrockenheit über die eigene Lage, verkörpert sie mit präzise gesetzten Blicken und Haltungen. Das meint auch: den eigenen Körper verletzbar machen. Ihr physisches Spiel verleiht dem Film seine Fallhöhe. Tara, so heißt ihre 16-jährige Figur, will mit ihren Freundinnen in Malia feiern. Als die Gruppe ihre karge Ferienwohnung aufschließt, wähnt sie sich im Paradies: eigener Raum, Freiheit, beste Sicht auf den Pool. Flirten über den Balkon hinweg. Auch wenn es nicht dabei bleibt, das alte Leben daheim gänzlich zu vergessen. Mutter erkundigt sich per SMS, die elterliche Einflussnahme ist noch nicht passé. Später bangt man um die Prüfungsergebnisse. Was man danach mit seinem Leben anstellen will? Wer weiß das schon genau. Sonne, Strand, Alkohol und Sex sollen die zermürbende Orientierungslosigkeit und alle Zukunftsängste vergessen machen.
Gerade der Sex gleicht jedoch mit jeder vergehenden Minute mehr einem Damoklesschwert denn einem Vergnügen. Ein Streben nach dem Verlust der Unschuld wird irgendwann zum Spießrutenlauf, die eigene Würde und Unversehrtheit zu bewahren. Das Thema Einvernehmlichkeit prägt diesen Film als schockhafte Verunsicherung. Wiederholt zeigt er Übergriffigkeiten. Die Schwierigkeit, ihnen zu begegnen und sie zu verarbeiten, aber auch Ignoranz, Druck und soziales Unvermögen der Mitmenschen trägt How to Have Sex als Zumutungen in die Kinos. Seine naheliegende Frage, wo eine Vergewaltigung beginnt, wann Menschen Sexualität als übergriffig empfinden, stellt er und stellt sie nicht. Weil seine konsequente Perspektivierung so eindringlich und eindeutig gelingt, dass an der Übergriffigkeit der fragmentarisch aufflackernden Szenen eigentlich kein Zweifel besteht.
Herausfordernd ist Walkers Kinofilm also weniger aus einem diskursiven Streben heraus, sondern weil ihm eine gänzlich ungeschönte Demonstration jugendlicher Unsensibilität und beiläufiger Verletzbarkeit gelingt. Unerfahrenheit vermengt sich mit vorgelebten Rollenbildern, Gruppendynamiken und Hierarchien, aber auch der Flüchtigkeit und empfundenen Verantwortungslosigkeit innerhalb der Begegnungen. Wer sich entfernt, gilt als Spaßbremse. Ungeachtet der Kämpfe, die man unter der Fassade austrägt. Sexuelles birgt hier etwas enorm Gewalttätiges. Im Party-Paradies verwandelt man niederste Sexismen in Spektakel und alle spielen mit. Flaschen werden als Penisse gebraucht, um Flüssigkeiten in die Münder unterwürfiger Frauen zu gießen. Ein erektiler Contest auf offener Bühne wird von johlenden Massen umringt, in denen Molly Manning Walker ihrer Hauptfigur Momente der Belastung und Abscheu schenkt.
Regeln und Bilder einer männlich geprägten Welt degradieren nicht nur das Weibliche zum Sexobjekt, sondern auch das vermeintlich Männliche – in ausgestellter Omnipotenz und behaupteter Befriedigung, die vom Gegenüber lediglich als brutaler Kontrollverlust erfahren wird. Weil weder Sprechen noch Handeln die nötige Reife besitzen, um sich einander auf Augenhöhe begegnen zu können. How to Have Sex gelingt damit eine sensible, facettenreiche, teils verstörende Vergegenwärtigung dessen, was es heißt, als junger Mensch in derlei Verhaltensweisen und Strukturen aufzuwachsen. Sie überschatten Erfahrungen, reißen Erwartungen ein, formen sie auf fatale Weise neu. Die Gewalt von Geschlechterbildern ist schon verinnerlicht, da ihre halbstarken Akteure sie noch nicht einmal erkannt haben. Sie sind längst dabei, sie einzustudieren, zu performen.
Dass How to Have Sex dennoch kein gänzlich pessimistisches oder lustfeindliches Kino darstellt, ist das Bravourstück der Regisseurin und Autorin. Denn es gibt die zärtlichen Anklänge trotz allem! Empfindungen einer Schwärmerei, erster Schmetterlinge im Bauch. Ambivalente Szenen, in denen die Geselligkeit tatsächlich Freude birgt, trotz aller Fehler und Unbeholfenheit im Miteinander. Dieser Film spürt dem Empathischen und Utopischen durchaus nach, aber er macht sich und seinem Publikum auf der anderen Seite wenig vor. Er kann nicht ohne das Unbehagen, weil er sich für die Momente des Werdens und des Dazwischens, des Auslotens von Grenzen interessiert. Gefahren und Abgründe liegen da in der Natur der Sache. How to Have Sex ist ein Film der offenen Optionen, die längst ihre Wunden schlagen.
All die verborgenen, weggelächelten und übertünchten Verletzungen wahrzunehmen, dort Einfühlsamkeit zu beweisen, wo sie woanders verwehrt und enttäuscht wurde, davon handelt der letzte Akt, auf den dieses Drama mit schmerzender Hilflosigkeit zusteuert. Dabei ist sein optimistischer Schluss, eine Geste der Solidarität, nicht nur der tröstlichste, sondern auch brutalste Moment, den Molly Manning Walker ihrem Publikum beschert. Weil er einerseits zu spät kommt und weil in ihm beides verschmilzt: Zuversicht im gegenseitigen Erkennen des Leids. Aber auch dessen latente Identifizierung als bittere Normalität. Hier wird Walkers Film ganz offensiv und konkret: in der vollendeten Desillusionierung, die man über anderthalb Stunden gemeinsam mit den Figuren in sonniger Ferne durchlebt, um jener Normalität die stille Duldung zu rauben.