Deutschland 2021 · 97 min. · FSK: - Regie: Elena Alvarez Lutz Produktion: Elena Alvarez Lutz Kamera: Lilli-Rose Pongratz, Elena Alvarez Lutz u.a. Schnitt: Nina Ergang Protagonisten: Helen Britton |
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Wie Flausen wächst der Schmuck ihr direkt aus dem Kopf: Helen Britton | ||
(Foto: Elena Alvarez Lutz / DOK.fest München) |
Mit nackten Füßen durchstreift Helen Britton das seichte Ufer von Newcastle im Südosten von Australien. Da entdeckt sie zwischen dem grünen Tang eine zartrosé-farbene Muschel, daneben eine abgeworfene Krebsschale. Sie klaubt die Schalen auf, arrangiert sie auf ihrer Hand zu einem kleinen Ensemble. Deutet auf die gerundeten Formen der Öffnungen, die leer und von der Muschel verlassen klaffen, erwähnt das zarte Rosa. Derartig aufgeklaubt und der achtlosen Indifferenz der Welt entschält, wird das Gefundene zu etwas Wertvollem. Helen Britton könnte eine von Agnès Vardas Sammlerinnen aus Les glaneurs et la glaneuse sein, eine, die übrig gebliebenene oder weggeworfene Objekte wertschätzt und in das sprichwörtliche Gold verwandelt. Nur dass die Gegenstände selbst durch die Hände von Helen Britton natürlich nicht wirklich – wie in der fatalen Sage von König Midas – zu Gold werden. Die Welt, wie sie ist, ist Gold genug.
Die Australierin Helen Britton ist eine der herausragenden Vertreterinnen der zeitgenössischen Schmuckkunst. Sie hat ihr Atelier in München, »home base« für die Streifzüge durch die Welt. Die deutsch-spanische Regisseurin Elena Alvarez Lutz hat nun einen berührend-poetischen Dokumentarfilm über die Künstlerin gemacht, mit der sie ein ähnliches Schicksal teilt: Wanderin zwischen ihrem Herkunftsland Spanien und ihrem Wohnort München zu sein.
Alvarez Lutz sieht in Helen Britton weniger die Varda’sche Sammlerin als vielmehr eine Jägerin, »hunter from elsewhere«, wie sie im Filmtitel die Schmuckkünstlerin umschreibt. Deren Jagdreviere sind scheinbar unspektakuläre Landschaften und Orte, Industriegelände, vollgestopfte Kramerläden, Flohmärkte, auch verlassene Häuser, in denen sie einen durcheinandergeratenen Nachlass nach Brauchbarem in Augenschein nimmt. Und jedem Objekt seine Geltung zuspricht.
Als Helen Britton nach München an die Kunstakademie kam, um bei der Schmuck-Koryphäe Otto Künzli zu studieren, war eine der ersten Aufgaben, einen Film in ein Schmuckstück zu übersetzen. Es ging um Robert Guédiguians Marius und Jeannette, eine Liebesgeschichte im Hafen von Marseille. Britton übersetzte den Film in eine Brosche, die sie aus einer Zahnbürste machte – dem Gegenstand, der den Beginn und das Ende einer Liebe symbolisiert.
Wie in Umkehrung dieser Initialaufgabe, so könnte man sagen, übersetzt nun Elena Alvarez Lutz die Schmuckkunst von Helen Britton in einen Film. Mit der Kamera entbirgt sie die Gegenstände aus ihrer Umgebung, setzt sie unauffällig in Szene. Eine Plastikgießkanne lässt sie fahl im Dunkel des verlassenen Nachlass-Hauses schimmern, eine verwitterte Blechtafel blättert ihren Lack ab, als wäre sie das Kunstwerk eines alten Meisters. Wir meinen, mit den Augen der Künstlerin zu sehen, während wir erleben, wie sich das Profane in etwas Besonderes verwandelt. Das hallt nach – Helen Britton und Elena Alvarez Lutz sind Alchemistinnen, die unseren Blick auf das scheinbar Wertlose verwandeln.
Ein Kennzeichen der zeitgenössischen Schmuckkunst, so erklärt es im Film eine Kunsthistorikerin, ist folgende Fragenkette: Ist das aus Gold? – … aus Silber? – … enthält es einen Edelstein? Nein? Warum ist es dann so teuer? Die Antwort lautet: Weil die Idee den Schmuck so wertvoll macht. Helen Britton verarbeitet Abfall, so könnte man leichtfertig (und unter Missachtung ihrer Philosophie) sagen: Bruchstücke von buntem Glas, das die Brandung geschliffen hat, Reste eines Gesteinssammlers, die für ihn wertlos sind, Kettenglieder, die sie in der Altmetallsammlung findet. Sie kreiert preziose Broschen aus stacheligen Metallplatten, in feuerroten Lack getauchte falsche Salzstangen aus Mineralien, Armketten aus altem Werkzeug, einen Schlüsselbund aus transparenten Gesteinsstiften. Dabei inszeniert Helen Britton die Materialität des Gefundenen, akzentuiert die Textur und das natürliche Licht der Objekte.
Aufgewachsen ist Britton in Newcastle im Südosten Australiens, in einer auf Schwerindustrie getrimmten Kleinstadt direkt am Ozean. Hier wurde sie unter dem Eindruck der Materialverwandlung groß, erlebte, dass schwerer Stahl zu Schiffen wurde, die mit Waren in die weite Welt hinausfuhren. Der Stahl aus seinem Urstoff, dem Kohlenstoff, ist für Helen Britton wertvoller als das Diamant-Derivat, weil er für sie das Leben und die Verwandlung bedeutet. In ihrer Jugend baute sie Motorräder auseinander und hörte Postpunk, eigentlich war ihr Leben prosaisch, trotzdem von einer Poesie, die aber rough und rau war. Britton philosophiert über das Leben, aber sie romantisiert nicht.
Über mehrere Jahre hat Alvarez Lutz die Künstlerin begleitet. Sie hat sie in ihrem Atelier in München besucht und ist mit ihr in die Flohmärkte eingetaucht. In Newcastle hat sie die Tiefe ihrer Weltsicht kennengelernt. »In der Welt, in der du lebst, erscheint dir alles gewöhnlich, alltäglich. Kommst du aber von woanders her, blickst du ganz anders auf diese Banalität, alles erscheint dir ungewöhnlich und besonders«, sagt die Künstlerin einmal. Helen Britton ist eine Jägerin aus einer anderen Welt, die gekommen ist, um uns die Blumen des Banalen zu zeigen.