Italien/B/F 2023 · 122 min. · FSK: ab 16 Regie: Matteo Garrone Drehbuch: Matteo Garrone, Massimo Gaudioso, Massimo Ceccherini, Andrea Tagliaferri Kamera: Paolo Carnera Darsteller: Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawagodo, Hitchem Yacoubi, Doodou Sagna u.a. |
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Neue Helden braucht die Welt... | ||
(Foto: X Verleih) |
John Maynard!
„Wer ist John Maynard?“
»John Maynard war unser Steuermann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron‘,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«
– Theodor Fontane, John Maynard
Man sollte sich vor dem Besuch von Matteo Garrones Flüchtlingsdrama einige der überzeugendsten Arbeiten zu diesem Thema ansehen, vielleicht Moussa Tourés Die Piroge (2012) oder Mati Diops Atlantique (2019), die sehr unterschiedlich das Herz der Migration umgarnen, mal über die Flucht selbst, mal über den prekären Alltag im Heimatland.
Der Italiener Matteo Garrone versucht diese beiden Komplexe zu amalgamieren. Wie die beiden genannten Filme ist es auch hier der Senegal, ist es Dakar, was wir sehen und damit ein Land, das eben nicht zu den ärmsten Ländern gehört, sondern auch politisch eines der erfolgreichsten Modelle auf dem afrikanischen Kontinent ist. Und damit – anders als der politische Volksglaube es weismachen will – ein ideales Sprungbrett für die Migration ist. Denn wie auch Garrone schnell klar macht, sind es nicht Ärmsten, die an die Flucht denken, sondern ist es im Grunde die jugendliche Mittelklasse, die gut über das Internet und soziale Medien mit der großen Welt vernetzt ist und die über Jobs auch Ressourcen sammeln kann, um die die Flucht zu realisieren. Garrone erzählt von dem Alltag zweier Jugendlicher und räumt auch hier gleich mit Stereotypen auf, ist es eben nur dieser wilde Traum der Jugendlichen, endlich Europa zu bereisen und mit guten Jobs erwachsen zu werden und keinesfalls der Traum der Eltern, die mit allen Mitteln versuchen, die Jungen davon abzubringen.
Das ist so ungewöhnlich wie überraschend und gibt dem Film schon an dieser Stelle etwas von einer wilden, ungezügelten Kraft, die vor allem eins zeigt: es sind freiheitliche Handelnde, und keine Opfer, die hier ihr Leben in die Hand nehmen.
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»Leider wird unser Verständnis der Migration von politischen Parolen, Mediendarstellungen und der von humanitären und inter-nationalen Organisationen verbreiteten Erzählung von den ›wahren Ursachen‹ verzerrt. Die Behauptung, dass Armut und globale Ungleichheit Migration verursachen, verschleiert den wichtigsten Grund von allen: die anhaltende Nachfrage nach Arbeitskräften. Das trifft zum Teil sogar auf die humanitäre Migration zu.«
– Hein de Haas, Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt
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Dem jugendlichen Fokus angemessen – Seydou Sarr als Seydou und Moustapha Fall als Moussa spielen überragend – inszeniert Garrone ihre Flucht dann auch nicht als Flucht, sondern viel mehr als Easy Rider-artigen Road Trip mit Anleihen an den magischen Realismus, um die Leichtigkeit des Road Trips auch in schwierigen Phasen zu kompensieren.
Erst mit der Ankunft in der Wüste und der Konfrontation mit gnadenlosen Schleppersyndikaten wechselt Garrone zu einer
sozialrealistischen Tonlage, die ein wenig zu sehr die Stereotypen bedient, die der westliche Blick erwartet, sind die hier geschilderten Ereignisse zwar der Dramaturgie dienlich, aber dann doch eher die Ausnahme.
Doch Garrone lässt dieses Szenario dann auch relativ schnell wieder hinter sich und richtet seinen Blick auf den Migrationsalltag in Libyen, in Tripoli, der nicht viel anders als der Migrationsalltag in all den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (und davor – man denke an Edgar Reitz‘ Neue Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht) für die Europäer aussieht, die sich auf neue Heimaten einließen.
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»Die globale Migrationsrate war im 20. Jahrhundert bemerkenswert stabil. Die große Veränderung war die ›globale Umkehr der Migration‹, das heißt, dass Europäer die Besiedlung anderer Kontinente eingestellt haben und nun mehr Migranten in Gegenrichtung, also aus den einstigen Kolonien (dem ›Globalen Süden‹) in den Westen kommen. Wenn wir also glauben, in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft zu leben, kommt darin eine eurozentrische Verzerrung zum Ausdruck, die implizit nicht westliche Migranten mit Vielfalt gleichsetzt.«
– Hein de Haas, Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt
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Ich Capitano schließt jedoch nicht mit dieser Zwischenstation, sondern mit dem Meer, das dem Film ja auch seinen Titel gibt, obgleich Seydou, der eigentliche Held dieses Films, schon in der Wüste langsam zum »Kapitän« seines Lebens reift. Doch die Vollendung dieses Coming-of-Age-Prozesses erlebt er wie einst Fontanes Balladen-Held John Maynard auf dem Meer, als unfreiwilliger, wirklicher Kapitän.
Damit macht Garrone natürlich nicht nur deutlich, dass unser Schicksal immer auch eines der Situation ist, in der wir uns befinden und mit jeder neuen Situation auch der Mensch zu einem neuen Menschen werden kann. Nein, vielmehr als das, lässt Garrone in diesem Teil seines Film auch die Möglichkeit zu, dass der Mensch sich selbst in unmenschlichsten Situationen zutiefst »menschlich«, d.h. humanitär verhalten kann, ohne dass es dabei gleich zu einem Opfergang wie bei Fontane kommen muss.
Im Gegenteil zeigt Garrone in seinen bewegenden, fantastischen Schlusssequenzen, dass statt zu sterben selbst ein mittelloser, jugendlicher Migrant zum selbstermächtigten Helden reifen kann und ein Mensch wie dieser und alle um ihn herum dann doch eher ein Geschenk und ein Segen als ein Fluch für das Land sind, in dem sie anlanden werden.
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»In ihrem Buch Exceptional People aus dem Jahr 2011 zeigen Ian Goldin und seine Kollegen, dass Migranten während der gesamten Menschheitsgeschichte ein Motor des Fortschritts waren Zuwanderer werden nicht nur dringend als Arbeitskräfte in system-relevanten Branchen benötigt, sondern sie bringen auch neue Ideen und Wissen mit und beflügeln damit Innovation und Produktivität. Ganze Nationen, allen voran in Süd- und Nordamerika, Neuseeland und Australien, wurden mit der Energie und Entschlossenheit von Siedlern errichtet, die alles hinter sich ließen, um ein neues Leben anzufangen«
– Hein de Haas, Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt