Ich Capitano

Io capitano

Italien/B/F 2023 · 122 min. · FSK: ab 16
Regie: Matteo Garrone
Drehbuch: , , ,
Kamera: Paolo Carnera
Darsteller: Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawagodo, Hitchem Yacoubi, Doodou Sagna u.a.
Filmszene »Ich Capitano«
Neue Helden braucht die Welt...
(Foto: X Verleih)

Migrantische Selbstermächtigung

Matteo Garrones mit dem silbernen Löwen ausgezeichnetes Flüchtlingsdrama geht immer wieder unkonventionelle und aufregende Wege, um die gegenwärtige Rezeption zu dieser Thematik zu hinterfragen und neu zu definieren

John Maynard!
„Wer ist John Maynard?“
»John Maynard war unser Steu­er­mann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann,
er hat uns gerettet, er trägt die Kron‘,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«

– Theodor Fontane, John Maynard

Man sollte sich vor dem Besuch von Matteo Garrones Flücht­lings­drama einige der über­zeu­gendsten Arbeiten zu diesem Thema ansehen, viel­leicht Moussa Tourés Die Piroge (2012) oder Mati Diops Atlan­tique (2019), die sehr unter­schied­lich das Herz der Migration umgarnen, mal über die Flucht selbst, mal über den prekären Alltag im Heimat­land.

Der Italiener Matteo Garrone versucht diese beiden Komplexe zu amal­ga­mieren. Wie die beiden genannten Filme ist es auch hier der Senegal, ist es Dakar, was wir sehen und damit ein Land, das eben nicht zu den ärmsten Ländern gehört, sondern auch politisch eines der erfolg­reichsten Modelle auf dem afri­ka­ni­schen Kontinent ist. Und damit – anders als der poli­ti­sche Volks­glaube es weis­ma­chen will – ein ideales Sprung­brett für die Migration ist. Denn wie auch Garrone schnell klar macht, sind es nicht Ärmsten, die an die Flucht denken, sondern ist es im Grunde die jugend­liche Mittel­klasse, die gut über das Internet und soziale Medien mit der großen Welt vernetzt ist und die über Jobs auch Ressourcen sammeln kann, um die die Flucht zu reali­sieren. Garrone erzählt von dem Alltag zweier Jugend­li­cher und räumt auch hier gleich mit Stereo­typen auf, ist es eben nur dieser wilde Traum der Jugend­li­chen, endlich Europa zu bereisen und mit guten Jobs erwachsen zu werden und keines­falls der Traum der Eltern, die mit allen Mitteln versuchen, die Jungen davon abzu­bringen.

Das ist so unge­wöhn­lich wie über­ra­schend und gibt dem Film schon an dieser Stelle etwas von einer wilden, unge­zü­gelten Kraft, die vor allem eins zeigt: es sind frei­heit­liche Handelnde, und keine Opfer, die hier ihr Leben in die Hand nehmen.

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»Leider wird unser Vers­tändnis der Migration von poli­ti­schen Parolen, Medi­en­dar­stel­lungen und der von huma­ni­tären und inter-natio­nalen Orga­ni­sa­tionen verbrei­teten Erzählung von den ›wahren Ursachen‹ verzerrt. Die Behaup­tung, dass Armut und globale Ungleich­heit Migration verur­sa­chen, verschleiert den wich­tigsten Grund von allen: die anhal­tende Nachfrage nach Arbeits­kräften. Das trifft zum Teil sogar auf die huma­ni­täre Migration zu.«
– Hein de Haas, Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt

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Dem jugend­li­chen Fokus ange­messen – Seydou Sarr als Seydou und Moustapha Fall als Moussa spielen über­ra­gend – insze­niert Garrone ihre Flucht dann auch nicht als Flucht, sondern viel mehr als Easy Rider-artigen Road Trip mit Anleihen an den magischen Realismus, um die Leich­tig­keit des Road Trips auch in schwie­rigen Phasen zu kompen­sieren.
Erst mit der Ankunft in der Wüste und der Konfron­ta­tion mit gnaden­losen Schlep­per­syn­di­katen wechselt Garrone zu einer sozi­al­rea­lis­ti­schen Tonlage, die ein wenig zu sehr die Stereo­typen bedient, die der westliche Blick erwartet, sind die hier geschil­derten Ereig­nisse zwar der Drama­turgie dienlich, aber dann doch eher die Ausnahme.

Doch Garrone lässt dieses Szenario dann auch relativ schnell wieder hinter sich und richtet seinen Blick auf den Migra­ti­ons­alltag in Libyen, in Tripoli, der nicht viel anders als der Migra­ti­ons­alltag in all den Jahr­zehnten des 20. Jahr­hun­derts (und davor – man denke an Edgar Reitz‘ Neue Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht) für die Europäer aussieht, die sich auf neue Heimaten einließen.

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»Die globale Migra­ti­ons­rate war im 20. Jahr­hun­dert bemer­kens­wert stabil. Die große Verän­de­rung war die ›globale Umkehr der Migration‹, das heißt, dass Europäer die Besied­lung anderer Konti­nente einge­stellt haben und nun mehr Migranten in Gegen­rich­tung, also aus den einstigen Kolonien (dem ›Globalen Süden‹) in den Westen kommen. Wenn wir also glauben, in einer zunehmend viel­fäl­tigen Gesell­schaft zu leben, kommt darin eine euro­zen­tri­sche Verzer­rung zum Ausdruck, die implizit nicht westliche Migranten mit Vielfalt gleich­setzt.«
– Hein de Haas, Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt

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Ich Capitano schließt jedoch nicht mit dieser Zwischen­sta­tion, sondern mit dem Meer, das dem Film ja auch seinen Titel gibt, obgleich Seydou, der eigent­liche Held dieses Films, schon in der Wüste langsam zum »Kapitän« seines Lebens reift. Doch die Voll­endung dieses Coming-of-Age-Prozesses erlebt er wie einst Fontanes Balladen-Held John Maynard auf dem Meer, als unfrei­wil­liger, wirk­li­cher Kapitän.

Damit macht Garrone natürlich nicht nur deutlich, dass unser Schicksal immer auch eines der Situation ist, in der wir uns befinden und mit jeder neuen Situation auch der Mensch zu einem neuen Menschen werden kann. Nein, vielmehr als das, lässt Garrone in diesem Teil seines Film auch die Möglich­keit zu, dass der Mensch sich selbst in unmensch­lichsten Situa­tionen zutiefst »mensch­lich«, d.h. humanitär verhalten kann, ohne dass es dabei gleich zu einem Opfergang wie bei Fontane kommen muss.

Im Gegenteil zeigt Garrone in seinen bewe­genden, fantas­ti­schen Schluss­se­quenzen, dass statt zu sterben selbst ein mittel­loser, jugend­li­cher Migrant zum selbst­er­mäch­tigten Helden reifen kann und ein Mensch wie dieser und alle um ihn herum dann doch eher ein Geschenk und ein Segen als ein Fluch für das Land sind, in dem sie anlanden werden.

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»In ihrem Buch Excep­tional People aus dem Jahr 2011 zeigen Ian Goldin und seine Kollegen, dass Migranten während der gesamten Mensch­heits­ge­schichte ein Motor des Fort­schritts waren Zuwan­derer werden nicht nur dringend als Arbeits­kräfte in system-rele­vanten Branchen benötigt, sondern sie bringen auch neue Ideen und Wissen mit und beflügeln damit Inno­va­tion und Produk­ti­vität. Ganze Nationen, allen voran in Süd- und Nordame­rika, Neusee­land und Austra­lien, wurden mit der Energie und Entschlos­sen­heit von Siedlern errichtet, die alles hinter sich ließen, um ein neues Leben anzu­fangen«
– Hein de Haas, Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt