Großbritannien/F 2016 · 101 min. · FSK: ab 6 Regie: Ken Loach Drehbuch: Paul Laverty Kamera: Robbie Ryan Darsteller: Dave Johns, Hayley Squires, Micky McGregor, Dylan McKiernan, Sharon Percy u.a. |
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Die Moral von der Geschichte... |
»Hunger will tame the fiercest animals, it will teach decency and civility, obedience and subjugation to the most brutish, the most obstinate, and the most perverse.«
(Joseph Townsend)»Ich glaube, Wut kann sehr produktiv sein, wenn man sie zu nutzen weiß.«
(Ken Loach)
Die Zeit heilt alle Wunden. Erst Recht die eines Filmfestivals wie Cannes. Liest man sich jetzt im Winter noch einmal die wütenden und enttäuschten Kritikersentenzen durch, die gleich nach der Vergabe der goldenen Palme an Ken Loachs Ich, Daniel Blake fast unisono erfolgten, fragt man sich schon: ja, spinnen die denn alle? Wie kann man einem derartigen Film, der kaum treffender am Puls der Zeit operieren könnte, einen solchen Preis nicht zugestehen?
Aber seit Cannes gab es den Brexit und seit Cannes gab es die Wahlen in den USA und wahrscheinlich würde sich der Kritikerspiegel heute anders lesen, würden vielleicht auch die Vorwürfe an Loach, er sei ein Propagandist und mit einem Privatvermögen von 4,1 Millionen Pfund sowieso ein Heuchler, der im Grunde gar nicht wissen könne, wie es um die Abgehängten unserer Gesellschaft wirklich bestellt ist – würden zumindest einige diese Stimmen verstummen.
Denn was Loach und sein seit zwanzig Jahren treuer Drehbuchautor Paul Laverty (El Olivo – Der Olivenbaum) für Ich, Daniel Blake an Realität zusammengetragen haben, ist zum einen natürlich wenig überraschend Loachs schon fast klassischer »sozialer Realismus«, in dem sich so ziemlich alles dem Prinzip der jeweiligen Realität einer Geschichte unterzuordnen hat: Die Dreharbeiten finden vor Ort statt, in diesem Fall im Norden Englands, in Newcastle, das neben der düsteren Kulisse einer abgetakelten Region ebenfalls für seinen eigenen Dialekt – »Geordie« – bekannt ist, den Hauptdarsteller Dave Johns selbstverständlich spricht. Wie bislang in jedem Film von Loach vibriert auch Ich, Daniel Blake vor Realität, fließen Details der Vorabrecherchen bis in die Auswahl der Stühle und des Geschirrs, ist es fast unmöglich, sich der Authentizität der Geschichte zu entziehen, wie grausam und absurd sie auch sein mag.
Denn es ist eine Geschichte, die es in sich hat. Und bei der sofort klar wird, warum der inzwischen 80-jährige Loach seinen nach seinem letzten Film Jimmy’s Hall verkündeten Rücktritt noch einmal rückgängig gemacht hat. Und Loach erzählt sie mit einer derartig beunruhigenden Wut, dass man alle Vorwürfe gegen ihn getrost vergessen kann. Soll er doch reich sein, soll er seinen ewig gleichen Stilmitteln noch bis zu seinem Tod treu bleiben und soll es ruhig auch ein bisschen propagandistisch zugehen. Denn wenn die Realität so faul, verdorben und beschissen ist, muss man ihr den Spiegel vorhalten und kristallklaren Widerstand leisten.
Das Gute an Loachs und Lavertys Widerstand und Wut ist, dass sie aus ihren Recherchereisen durch die abgehängten Regionen Englands ein erzählerisches Destillat erzeugt haben, das nicht nur erschüttert, sondern auch Spaß macht, das vor allem über die Stand-Up-Comedian-Erfahrung seines Hauptdarstellers Dave Johns ein subtiler Humor in die Geschichte einfließt, der die beim Zuschauer entstehende Wut nicht nur weiter anfackelt, sondern sie auch erträglich macht.
Denn wie sonst könnte und wollte man dieser Geschichte bis zum Ende folgen, dem abstrusen Leidensweg des 59-jährigen Zimmermanns Daniel, der erst seine Frau verliert und dann durch einen Herzinfarkt auch seine Arbeit? Und der durch die absurden Warteschleifen und Anforderungen der Arbeitsagentur mit einer Realität konfrontiert wird, die menschenverachtender kaum sein kann und mehr an die legendären Schriften eines Gegners des Sozialstaates wie Joseph Townsend und seine »Dissertation on the Poor Laws« als an die Errungenschaften des englischen Sozialstaats erinnert. Allein die Szenen, in denen Daniels fehlende Computer-Erfahrung zu einem haarsträubenden K.O.-Kriterium wird, wie bürokratischer Stumpfsinn sich mit neoliberaler Wirtschaftsethik paart, reichen fast schon aus, sich für den bewaffneten Widerstand motiviert zu fühlen. Loach und Laverty erweitern die Perspektive an dieser Stelle jedoch noch einmal, indem sie Daniel nicht nur die alleinerziehende und ebenfalls arbeitslose Katie (Hayley Squires) an die Seite stellen – die ebenfalls durch die Mühlen einer grotesken Bürokratie geschleust wird und sich dabei fast verliert – sondern werfen über Daniels Nachbarn auch noch einen Blick auf die informellen Arbeits- und Alltagswelten junger Menschen.
Die Gefahr bei »destillierter Realität« ist stets, dass sie zu viel, zu dicht, zu aufgesetzt, bemüht und falsch wirken kann, doch Loach und Laverty spinnen ihre Plotfäden so dezent, dass selbst die Besuche von Lebensmittel-Tafeln richtig und notwendig erscheinen, um zum einen Katies und Daniels Entwicklung zu begreifen, zum anderen die Grausamkeit eines Systems zu verstehen, dass wiederum nur das hilflos, verzerrte Sprachrohr einer populistischen Dämonisierung von Armut ist, die in England in den letzten Jahren dazu geführt hat, dass der Normalbürger glaubt, dass hinter 30 Prozent der staatlichen Unterstützung betrügerische Absichten stecken – obgleich es laut offizieller Statistiken nur 0,7 Prozent sind.
Loachs ethnografische Beobachtungen einer derangierten, zerfallenden, britischen Gesellschaft, die mehr und mehr »abgehängte« Parallelwelten ausspuckt, stehen zwar für England, aber erinnern auch an die Bilder, die Cédric Klapisch in Mein Stück vom Kuchen für Frankreich und die Andrea Arnold in American Honey für das abgehängte Amerika von heute gefunden hat, und sie dürften auch zu dem weiterhin schmerzlich vermissten deutschen Film zu dieser Thematik passen. Und nicht vergessen sei an dieser Stelle Arlie Russell Hochschilds empathische und kluge Reportage über Trumps treueste Wähler, deren Befinden vielleicht am besten das ausdrückt, was auch Daniel Blake et al spüren: »The deep story reflects pain; you’ve done everything right and you’re still slipping back.«
Der deregulierte Markt erfordere »tausendmal mehr Papierkram als eine absolutistische Monarchie«, schreibt Daniel Graebner in seinem letzten Buch »Bürokratie. Die Utopie der Regeln«, zugleich seien der Bürokrat wie die Bürokratie mitleidslos, das Individuum und seine besonderen Umstände gelten ihnen nichts. Mit diesen Thesen sind die Hauptgedanken des neuen Films von Ken Loach ganz gut umrissen.
Der Brite Ken Loach ist – gemeinsam mit den belgischen Brüdern
Jean-Pierre und Luc Dardennes – so etwas wie der Sozialpapst des internationalen Autorenfilms. Er repräsentiert jenen Zweig des Kinos, der für die Probleme der Gesellschaft und Fragen wohlfahrtsstaatlicher Ästhetik zuständig ist: Grau in Grau sind die Wände, die Straßen und die Häuser in seinen Filmen, grau sind aber auch die Aussichten der Menschen. Die Hauptfiguren haben oft einen grundguten Charakter und bescheidene Träume – es sind die Verhältnisse, von denen
sie gemartert werden.
Das Werk von Loach ist nicht humorlos und unbedingt gut gemeint, und es malt eine politische Agenda aus, die in ihrem Humanismus und ihrer Kritik an den herrschenden Zuständen sympathisch ist. Und doch kann es einem auch in seinem Agitationscharakter auf die Nerven gehen.
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»Guten Morgen Mr.Blake ich möchte Ihre Berechtigung hinsichtlich Ihres Sozialhilfeanspruchs überprüfen. Können Sie mehr als 50 Meter zu Fuß gehen?« – »Ja« – »Können Sie beide Hände so heben, als wollten sie etwas in die Brusttasche stecken?« – »Ja. Darf ich Ihnen eine Frage stellen: Sind Sie medizinisch qualifiziert?«
So geht es los, zu Beginn des Films.
I, Daniel Blake, mit dem der britische Regisseur im letzten Mai beim Festival von Cannes überraschend und angesichts der Konkurrenz völlig unverdient seine zweite Goldene Palme gewann, erzählt von einem verwitweten Zimmermann aus Newcastle im Nordosten Englands. Daniel Blake kommt bald ins Rentenalter, und hatte kürzlich einen leichten Herzinfarkt. Jetzt kann und möchte er wieder arbeiten, doch einen legalen Job zu bekommen, stellt sich aus hauptsächlich formalen Gründen als überaus schwer heraus. Mit viel Interesse am Detail lässt der Film sein Publikum an Daniels Kampf mit den Behörden teilnehmen, der – so realistisch ihn Loach auch recherchiert hat – zunehmend absurde Züge trägt: Denn Daniel braucht Geld von der staatlichen Arbeitslosenversorgung, und dazu braucht er, weil er ja krank war, eine Arbeitsfähigkeitsbescheinigung von Gesundheitsamt. Arbeitsamt und Gesundheitsbehörde wollen ihm das eine nicht ohne das andere ausstellen, und legen sich so gegenseitig lahm – der alte Mann fällt durch den Schlund der Vorschriften ins Bodenlose.
Es ist ein aussichtsloser Kampf mit einer staatlichen Hydra, der den so empört wie hilflos im Kinosessel sitzenden Zuschauer zusätzlich dadurch deprimiert, dass der alte Mann offenbar noch nie im Leben mit Computern gearbeitet hat, und deshalb nicht weiß, wie man zum Beispiel eine Computermaus bedient, wie man scrollt, etc. Diese Überforderung rührt, zugleich entlarvt sich hier Loachs Blick auf seine »Lower Class«-Figuren als keineswegs liebevoll, sondern durch und durch paternalistisch und idyllisierend. Sind denn nicht auch die meisten »kleinen Leute« heute weder so unwissend und überfordert mit modernen Techniken, noch derart selbstlos und jederzeit moralisch handelnd wie diese Kinokunstfigur?
Dieser Eindruck verstärkt sich durch die weiteren Erzählstränge: Vor allem in der Geschichte einer jungen alleinerziehenden Mutter, die mit ihren beiden Kindern Opfer einer Zwangsräumung wurde. Daniel Blake kümmert sich rührend um sie, bastelt den Kindern Spielzeug, vermittelt den Kontakt zu Sozialhelfern, lädt die Familie zum Essen ein. Ist es zudem eigentlich wirklich nur ein Zufall, dass Loach seine Figur auch mit christlichen Attributen dekoriert: Daniel ist Zimmermann von
Beruf, und schnitzt für die Kinder der alleinerziehenden Frau ausgerechnet Fische.
Daneben erlebt man Daniel mit Nachbarn, jungen Schwarzen, mit Freunden beim Fußball-Schauen und anderen Szenen als den guten Mensch von Newcastle: immer fair, nie aufbrausend, nie zornig oder sonstwie emotional – ein harscher und beschämender Kontrast zu den frustrierenden Erfahrungen auf den Ämtern – zugleich praktiziert Loach, indem er die Naivität seiner Figuren ebenso betont, wie
ihre Moral, Schwarzweißmalerei nahe am Sozialkitsch.
Auch wenn Loach immer wieder versucht, seinem Film Momente der Leichtigkeit und des Komödiantischen zu geben, liegt die Stärke des Films in seinem politischen Zorn. Loach zeigt, was der Soziologe Daniel Graebner in seinem letzten Buch »Bürokratie. Die Utopie der Regeln« beschrieben hat: Dass der deregulierte Markt unendlich viel mehr formale Vorschriften und Regularien zur Disziplinierung der Menschen aufstellt, als frühere Ökonomien, dass Bürokrat wie Bürokratie zugleich mitleidsloser agieren, denn je.
Am Beispiel des Kämpfers Daniel Blake, dessen Mut und Witz, Energie und Enthusiasmus in der Mühle der verwalteten Welt zermahlen werden, beschreibt Loach eindringlich, wie Behörden und die Bürokratie die Menschen kaputt machen, wie sich die Sozialämter hinter ihren Callcentern und Internetauftritten verstecken, und vor allem, wie sie immer neue, absurde Beschäftigungsspiele erfinden und zugleich die Formular- und Verfahrenskomplexität derart steigern, dass viele ihrer »Kunden« genannten Sozialhilfeempfänger frustriert aufgeben oder scheitern, jedenfalls die Statistik befreien. »Es ist eine monumentale Farce« sagt Daniel einmal, »wir schreiben Bewerbungen für Jobs, die es nicht gibt.« Auch die Verantwortlichen werden benannt: »All those fucking tories.«
Loach blickt nie auf Augenhöhe, sondern gönnerhaft und irgendwie doch immer von Außen wie Oben auf einen sehr sehr fernen, sehr sehr edlen Menschen und seinen Kampf mit der verwalteten Welt.
Der Weg auf einer absteigenden schiefen Ebene ist trotzdem unaufhaltsam. Daniel scheitert an allen Fronten. Am Ende des Films, kurz vor einem entscheidenden Sozial-Verfahren, stirbt er an seinem zweiten Infarkt – auch noch auf der Behördentoilette. Loach erspart dem Betrachter nichts.
Nur noch grotesk, dass eine Kollegin in Cannes den Film »eine Komödie« nennt. Man wundert sich schon, worüber manche Leute lachen.
Die Botschaft, dass der Staat der Feind sei, die der selbsternannte Trotzkist Loach paradoxerweise mit den Neoliberalen teilt, ist in dem Moment des Beinahe-Endes bereits überdeutlich formuliert: »The state digged him to an early grave.« Doch wie gesagt: Loach erspart uns nichts: In einer sehr sehr pathetischen Beerdigungsszene wird am Schluss auch noch ein Brief des Verstorbenen verlesen: »Ich bin kein 'Kunde', ich bin kein 'Klient', noch ein Leistungsempfänger. Ich bin
kein Drückeberger, kein Schnorrer, ich bettle nicht, ich stehle nicht. Ich bin keine Sozialversicherungsnummer und kein Pünktchen auf dem Bildschirm. Ich habe meine Beiträge gezahlt. Niemals einen Penny zu wenig und bin stolz darauf. Ich werfe mich nicht vor anderen in den Dreck, ich schaue meine Nachbarn in die Augen und helfe ihnen, wenn ich kann. Ich will kein Mitleid.
Ich heiße Daniel Blake. Ich bin ein Mensch und kein Hund. Als solcher verlange ich mein Recht.
Ich verlange
respektvollen Umgang.
Ich, Daniel Blake, bin ein Bürger.
ich bin ein Bürger. Nicht mehr, nicht weniger.«
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Der daraus folgende Befund des politisch treffenden, ethisch sympathischen, aber ästhetisch plumpen Agitprop, einer arg biederen Mischung aus Idealisierung und Stereotypisierung widerspricht dem verbreiteten Eindruck des »Realismus«, ja: »Naturalismus« in den Filmen des britischen Regisseurs. Nichts könnte falscher sein. Ken Loach steht in jeder Hinsicht, für ein Kino als moralische Anstalt.