Deutschland 2018 · 102 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Klier Drehbuch: Michael Klier, Karin Åström Kamera: Patrick Orth Darsteller: Hanno Koffler, Florian Stetter, Kai Scheve, Lilith Stangenberg, Jördis Triebel u.a. |
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Aushöhlung bürgerlicher Wertvorstellungen und Ideale |
Ein Wochenende auf dem Land, aber kein unbeschwerter Ausflug, sondern ein schmerzhafter Abschied. Giennie (Lilith Stangenberg) ist die jüngste von fünf erwachsenen Geschwistern, und sie ist geistig behindert. Wie schwer genau, darüber sind auch die Geschwister uneins. Aber klar ist: Sie kann nicht allein leben und wurde seit dem Tod der Eltern von ihrer Schwester Heli (Jördis Triebel) betreut. Jetzt braucht Heli mehr Zeit »für sich«, darum soll Giennie in ein Heim. Ihre drei Brüder (Kai Scheve, Hanno Koffler und Florian Stetter spielen sie) sind fürs Wochenende zu Besuch, um sie vor ihrem Abschied noch einmal zu sehen.
Dies ist eine Familiengeschichte, aber keine, wie sie im deutschen Kino allzu oft zu sehen ist. Immer wieder geht irgendetwas aus dem Leim, wird eine Grenze überschritten. Denn wenn sie beieinander sind, fallen alle Geschwister wieder in ihre Kindheitsrollen und die Familiendynamik von einst zurück – sie kämpfen miteinander, erziehen den anderen oder ziehen sich selbst zurück. Dies ist keine Familie zum Wohlfühlen, und die liebevollen Seiten der Geschwister scheinen nur an den Rändern des Geschehens mal kurz auf.
Mittendrin ist Giennie, die mal autistisch und versponnen so wirkt, als sei sie ganz allein in ihrer eigenen Welt. Doch wer genau hinguckt, kann sehen, dass sie gut beobachtet, alles mitbekommt, und auf ihre Weise in ihrer Sprache auch kommuniziert. Konkret bedeutet das: Giennie ist das schwarze Loch dieser Familie, das alle anzieht und verschluckt, eine Leerstelle, die als Negativ größte Kraft entfaltet, das Zentrum, auf das sich alle beziehen. Sie bringt alles durcheinander, aber dadurch auch zum Ausdruck, sie ist ein Störenfried, eine Anarchistin; sie geht allen auch auf die Nerven und kann wie eine Granate jederzeit in ungeahnte Richtungen explodieren – Kollateralschäden inbegriffen.
Für die 31-jährige Schauspielerin Lilith Stangenberg, die man vor allem von der Berliner Volksbühne kennt, die aber in Wild (2016) und Die Lügen der Sieger (2014) schon einige bemerkenswerte Kinorollen übernahm, ist dies ein phänomenaler Auftritt. Ihre Giennie redet nicht viel, sie ist keine »nette«, »niedliche« Behinderte, kein Opfer, aber sie ist auch denkbar weit entfernt von allen denkbaren Klischees, dem Grimassieren, Starren, Sabbern und anderen Manierismen des Irrsinns.
Für Kameramann Patrick Orth war das eine schwierige Aufgabe, die er grandios meistert: Nahe dran an den Figuren zu sein, fast Familienmitglied, Intensität herzustellen, und doch auch Distanz wahren. Immer neue Stimmungslagen fängt er mit Bildern aufmerksam ein, gönnt den Zuschauern Ruhe und Verweilen, um dann im Nu umzuschlagen in Aktion.
Regisseur Michael Klier gehört zu den individuellsten deutschen Filmemachern. Nie gehörte er einer Schule oder Bewegung an, doch macht er seit den 60er Jahren hochspannende, eigensinnige Filme, die seine unverwechselbare Handschrift tragen, und in denen oft, wie in Ostkreuz, Heidi
M. oder Farland jeweils Frauenfiguren im Zentrum standen. So auch in diesem Fall, der trotzdem etwas anders ist: Idioten der Familie erinnert eher an eine Familienaufstellung.
Für Außenstehende – hier also das Publikum – wird da manches schnell offensichtlich, was den Beteiligten verborgen ist: Wenn der erfolgreiche Bruder dem
Erfolglosen hilft, ist offensichtlich, dass er in Wahrheit vor allem seine Macht und Eitelkeit ausspielt.
Jeder im Kinosaal wird hier anknüpfen können; wird durch Déjà-Vus an seine eigene Familie erinnert werden, sich mit bestimmten Figuren identifizieren, in anderen geliebte oder schwierige Geschwister erkennen. Der Lackmustest ist hier natürlich Giennie, deren Name wohl kaum zufällig an einen »Jin« und an die »bezaubernde Jeannie« des Serienklassikers erinnert, also an eine Fee, die alles durcheinanderbringt, und in die jeder seine Wünsche und Ängste projiziert.
Kliers Ensemble-Kammerspiel spielt nicht nur geschickt auf dieser Klaviatur der Gefühle, spielt auch mit der Idee der Familie als solcher. Die »Idioten« des Titels sind schon durch den Plural klar nicht auf die behinderte Schwester allein gemünzt. Es sind alle, jeder für sich. Bekanntlich bedeutet der Begriff ursprünglich »Privatperson« – und das passt hier, denn alle fünf Geschwister sind vor allem einmal große Egozentriker.
Auch kommt einem Tolstoi in den Sinn: »Alle
glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.« heißt es zu Beginn von »Anna Karenina«.
Mitgemeint ist hier aber auch anderes: Der Zerfall, besser die Aushöhlung bürgerlicher Wertvorstellungen und Ideale: Denn die Manieren, die sie einst lernten, führen zu nichts mehr, sie lähmen nur noch, geben bestenfalls kurzfristig Halt.
Und die Idiotie des Familienmodells, zu dem es in den westlichen Gesellschaften auch in
der Spätmoderne keine echte Alternative zu geben scheint und das gerade im deutschen Kino gern ungebrochen propagiert wird: Vater, Mutter, Kinder, ob blutsverwandt oder nicht, sind auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet und einander ausgeliefert.
Wer diesen hervorragenden, fesselnd eigenwilligen Film sieht, könnte auf den Gedanken kommen, dass man »Familie« am besten vergessen sollte.