Brasilien 2012 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Sérgio Andrade Drehbuch: Sérgio Andrade Kamera: Yure César Darsteller: Begê Muniz, Francisco Mendes, Viktoryia Vinyarska, Ítalo Castro, Socorro Papoula u.a. |
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Staunen im Herz der Finsternis |
A Floresta de Jonathas – Im dunklen Grün ist das Spielfilmdebüt von Sérgio Andrade, geboren in Manaus, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas. Sein Film zeigt ein Brasilien, das nicht nur geografisch denkbar fern von der Copacabana ist. Im Ausland assoziieren die wenigsten Menschen mit dem Begriff Brasilien das gigantische Gebiet des Amazonas. Umgekehrt fühlt es sich auch für den dort lebenden Protagonisten Jonathas im Film so an, als ob Brasilien ein von seiner Heimat völlig verschiedenes Land wäre.
Jonathas (Begê Muniz) lebt mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder Juliano (Ítalo Castro) im ländlichen Amazonasgebiet. Die Familie verkauft selbst geerntete Früchte an einem Obststrand an einer Straße, die mitten durch den Tropenwald führt. Dieser Verkaufsstand dient in der schwach besiedelten Gegend auch als ein gesellschaftlicher Treffpunkt. Aufgrund der Möglichkeit dort mit ausländischen Touristen in Kontakt zu treten, ist der Stand für die Brüder ihr Tor zur Welt. Juliano verabredet sich regelmäßig mit Touristinnen zu Wochenendausflügen. Als er einen Campingausflug mit der schönen Ukrainerin Milly (Viktoryia Vinyarska) plant, begleitet der sonst sehr zurückhaltende Jonathas entgegen des ausdrücklichen Wunsches seines Vaters seinen Bruder. Jonathas und Milly finden Gefallen aneinander. Beim Campen bricht Jonathas morgens alleine früh auf, um für Milly wilde Passionsfrüchte im Wald zu suchen. Irgendwann muss er dabei feststellen, dass er sich völlig verlaufen hat...
A Floresta de Jonathas ist ein Film, der die Erfahrung der reinen Natur spürbar macht. Die Kamera von Yure César ruht immer wieder auf dem prächtigen Tropenwald, der fruchtbaren Erde und den farbenfrohen Früchten. Hinzu gesellen sich auf der Tonspur konstante Klänge von Blätterrauchen oder Grillengezirpe. Jonathas und seine Familie sind sehr einfache Menschen. Sie haben eine sehr ursprüngliche und direkte Beziehung zur Natur, in der und von der sie leben. Wenn Jonathan gemeinsam mit seinem Vater Früchte erntet, so sind sie dabei so still, bedächtig und ganz bei sich, wie Zen-Buddhisten, die einen Steingarten pflegen. Einmal reibt sich Jonathans Vater am ganzen Körper mit dem Mus zerstampfter Papayas ein, damit die Kraft der Frucht auf seinen Sohn übergehe.
Der Alltag dieser Familie erscheint als ein friedliches Leben im Einklang mit der Natur. Ihr Umfeld ist ein weitestgehend in sich abgeschotteter Mikrokosmos. Die Welt außerhalb ihrer Region ist für diese Menschen entweder irrelevant oder erscheint gar als bedrohlich. Juliano ist der einzige in der Familie, der offener wirkt. Doch an seinen Begegnungen mit fremdländischen Touristen reizt ihn lediglich die Möglichkeit schöne Mädchen kennenzulernen. Ansonsten interessiert auch ihn kaum, was die Gringos so treiben. Fremde Verhaltensweisen sind für ihn einfach »irgend so ein Ausländerkram«.
Wegen seiner starken Beziehung zu der Natur, kommt Jonathas bei seiner Suche nach wilden Passionsfrüchten zuerst gar nicht auf die Idee, dass der Wald für ihn zu einer Bedrohung werden könnte. Doch irgendwann bemerkt er, dass er nicht nur die Orientierung verloren hat, sondern auch keinen Handyempfang mehr hat. Langsam steigt die Angst in Jonathas hoch. Der ihm sonst so vertraute Wald erscheint Jonathas immer fremder und immer rätselhafter. Die Natur wird für den Jungen erstmals zu einer mystischen Welt. Dieser Wald ist ein einziger gewaltiger Organismus, der Jonathas zwar nicht direkt bedroht, der sich jedoch auch nicht für ihn interessiert. Diese urwüchsige Wildnis ist das real gewordene »Andere«, oder wie der wahnsinnige Kurtz in Joseph Conrads Erzählung »Herz der Finsternis« (1911) – und in dem auf dem Buch basierenden Film Apocalypse Now (1979) – sagt »das Grauen«. Jonathas erfährt sich als ganz auf sich selbst zurückgeworfen. In seiner Angst und Einsamkeit fängt er an zu halluzinieren. Dem Wald ist dies alles gleichgültig. Er existiert einfach. Und er schweigt.