F/D/NL/Chile 2017 · 92 min. · FSK: ab 6 Regie: Alireza Khatami Drehbuch: Alireza Khatami, Gonzalo Robles Kamera: Antoine Héberlé Darsteller: Juan Margallo, Tomás del Estal, Manuel Morón, Itziar Aizpuru, Julio Jung u.a. |
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Mit den Mitteln der Kunst das Grauen einer Realität erfahrbar machen |
Wie viele Tausende von Menschen verschwanden während der verschiedenen lateinamerikanischen Militärdiktaturen? Am Ende des argentinischen Dramas Junta (1999) werden die Opfer – lediglich betäubt – von der Ladeklappe eines großen Transportflugzeugs ins Meer gekippt. Und in dem chilenischen Dokumentarfilm Der Perlmuttknopf (2015) zeugt nur noch ein gleichnamiger Knopf auf einer am Meeresgrund liegenden verrosteten Eisenbahnschiene davon, dass an ihr einst ein vermeintlich bereits toter Gegner des Pinochet-Regimes festgebunden war.
Ebenfalls in Chile hat auch der Iraner Alireza Khatami sein Langfilmdebüt Los Versos del Olvido – Im Labyrinth der Erinnerung gedreht. Doch im Film wird der genaue Handlungsort niemals explizit genannt. Eine Militärdiktatur scheint allerdings auch dort zu herrschen. Die Schergen eines derartigen Regimes sind es wohl auch, die eines Tages eine Reihe von ermordeten Demonstranten in den Kühlfächern des Friedhofs zwischenlagern, in dem ein alter Wärter seinen Dienst verrichtet.
Als die Milizionäre beim Abtransport der Toten zum Verscharren der Körper in den Bergen die Leiche einer jungen Frau vergessen, erblickt der Wärter seine Mission darin, dem Vergessen des Andenkens an die Verschwundenen und Verstorbenen auf ungewöhnliche Art entgegenzuwirken. Dieser von dem Spanier Juan Margallo gespielte Friedhofswächter ist sowieso eine besondere Nummer. Auf der einen Seite besitzt er ein makelloses Gedächtnis. Er kann beispielsweise die genaue Anzahl an Tagen angeben, die er bereits seinen Job verrichtet oder die ein Besucher früher im Gefängnis einsaß. Nur an Namen erinnert er sich überhaupt nicht – nicht einmal an seinen eigenen!
Solche skurrilen Details zeigen, dass der Perser Alireza Khatami mit Los Versos del Olvido – Im Labyrinth der Erinnerung trotz des zunächst typischen Indiefilm-Looks keinen reinrassig realistischen Film geschaffen hat. Stattdessen vermengen sich in diesem die Poesie des iranischen Kinos und der Magische Realismus der lateinamerikanischen Literatur mit kafkaesken Elementen, die an Terry Gillams Film Brazil (1985) erinnern. An Gilliams Klassiker gemahnt auch die surreale Darstellung eines Bürokraten, der in seinem schlecht beleuchteten Büro mehr mit dem Ausschalten diverser alter Wecker, als mit dem ihm vorgetragenen Anliegen beschäftigt ist. Warum er diese Wecker überhaupt einmal gestellt hatte, hat er allerdings längst vergessen ...
Los Versos del Olvido („die Verse des Vergessens“) ist eine poetisch-groteske Darstellung der Mechanismen des (gewollten) Vergessens. Der Filmemacher zeigt eine beängstigende Kultur der Verdrängung, in der selbst die wenigen zaghaften Schritte hin zur Wiedergewinnung des verschütteten Andenkens an die Toten nur auf absurden Wegen erfolgen können. Khatami selbst wuchs während es Iran-Irak-Kriegs auf, in dessen Verlauf viele iranische Soldaten spurlos verschwanden. Zu jenen zählte auch der Sohn seiner Nachbarn. Nach 15 Jahren vergeblicher Suche fand man lediglich einen Stiefel des Vermissten. Bei der anschließenden Beerdigung lag nur jener im Sarg.
Bei einer derart erschreckend-grotesken Inspirationsquelle verwundert es nicht, dass Khatami diese Thematik nicht in Form eines nüchternen Realismus behandelt, sondern diese oftmals mittels schwer entschlüsselbarer Chiffren und überraschender Metaphern künstlerisch verarbeitet. Wenn der alte Friedhofswärter beim Blick in den Himmel einen fliegenden Wal erblickt, so erscheint dieses Bild zunächst als ein Ausdruck für seine eigene Sehnsucht danach, die unerträgliche Schwere seiner eigenen Realität überwinden zu können, um in eine bessere alternative Wirklichkeit zu entschweben.
Doch dieser Märchencharakter ist nur ein Teilaspekt dessen, wofür der Wal im Film steht. Am Ende stellt Khatami noch einmal einen viel unmittelbareren Zusammenhang zwischen den Walen und den Menschen her. So webt er ein dichtes Netz an Anspielungen und Bezügen, in dem sich poetische Traumwelten und die erschütternde Realität wechselseitig durchdringen. Los Versos del Olvido – Im Labyrinth der Erinnerung macht mit den Mitteln der Kunst das Grauen einer Realität erfahrbar, die viel zu erschreckend ist, als dass sie alleine mit dem Verstand vollkommen zu erfassen wäre.