I/F 2022 · 99 min. · FSK: ab 12 Regie: Emanuele Crialese Drehbuch: Emanuele Crialese, Francesca Manieri, Vittorio Moroni Kamera: Gergely Pohárnok Darsteller: Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani, Elena Arvigo, María Chiara Goretti u.a. |
||
Familie auf Abwegen... | ||
(Foto: Prokino) |
Am Anfang ist nur das Wort. Das übliche Geplapper einer Familie mit drei Kindern, die eine neue Wohnung im Rom der 1970er Jahre bezieht. Über die Zickzack-Dialoge von Clara (Penélope Cruz) und Felice Borghetti (Vincenzo Amato) wird schnell deutlich, dass die Luft raus aus dieser Ehe ist und auch die neue Wohnung mit spektakulärem Blick auf Rom daran nichts ändern wird. Clara, die eigentlich aus Spanien kommt, versucht ihren Frust durch eine Übermutter-Beziehung zu ihren Kindern zu kompensieren und lebt hier die Leidenschaften aus, die mit Felice nicht mehr möglich sind.
Dieses so übergriffige wie befreiende Beziehungsangebot versuchen die Kinder irgendwie so gut es geht zu »neutralisieren«. Die Kleinste über eine Babyattitüde, der mittlere Sohn mit Kackeinlagen in versteckten Winkeln der Wohnung und die älteste, 12-jährige Adriana (Luana Giuliani) über Fluchten aus der Wohnung und ihrem Körper. Sie kleidet sich wie ein Junge und lässt sich mit dem männlichen Namen Andrea adressieren, sobald sie das Haus verlassen hat und auch ihre Mutter Clara in ihrem unersättlichen Bedürfnis, geliebt zu werden, geht auf dieses Spiel ein.
Crialese, der erstmals 2011 mit seinem preisgekrönten Debüt Terraferma auf sich aufmerksam machte, zeichnet dieses dysfunktionale Familienpanorama mit gekonnten Strichen, mal leicht, mal mit dramatischen, dann wieder grotesken Untertönen. Er gibt dem Machismo von Felice den Raum, den es braucht, um ihn in seiner gnadenlosen Penetranz zu demaskieren, aber ihn gleichzeitig auch als ein »Produkt« seiner Zeit annehmen zu können, dem nicht nur seine Frau, sondern auch seine Kinder eigentlich egal sind, der nur dann gehorcht, wenn seine wohlhabende Mutter ein Machtwort spricht. So ambivalent Crialese Felice in seine Inszenierung einbettet, so ambivalent und zerbrechlich sind eigentlich alle Beteiligten, Clara in ihren zwischen Hysterie und Melancholie schwankenden Stimmungen ebenso wie die beiden kleineren Kinder.
Nur Andrea ist für Crialese ein Ruhepol, sie ist der eigentliche Held, die eigentliche Heldin dieses Films. Mit ihren Augen erzählt Crialese aber nicht nur eine körperliche und sexuelle Selbstfindung und die schwierige Identifikation innerhalb des Korsetts einer italienischen Familie der saturierten Mittelschicht, sondern über ihre Fluchten aus der elterlichen Wohnung wirft Crialese auch einen fast schon soziologischen Blick auf ein Italien im Umbruch, der Baustellen und der Verdrängung: Denn während ihrer kleinen Fluchten aus der familiären Depression stößt Andrea auf das andere Italien, das der Arbeiter und Armen, das auch Pier Paolo Pasolini immer wieder in seinen Filmen zeigte, in Mamma Roma (1962) mit seinen unvereinbaren Schnittmengen zwischen Reichtum und Armut, Schönheit und Hässlichkeit. Oder in Große Vögel, kleine Vögel (1966), in dem so wie in L’Immensità die Hauptpersonen Wanderer zwischen den Welten sind, die so verzweifelt wie humorvoll versuchen, sich und die Welt zu verstehen und dabei zu emanzipieren. Bei Pasolini sind das Vater und Sohn, bei Crialese Mutter und Tochter.
Ist es bei Pasolini jedoch der ständig nervende und die herrschende Moral verkörpernde Rabe, so ist es bei Crialese der Ehemann, dem am Schluss nur noch Ignoranz widerfährt. Eine Befreiung auf Kosten der Familie, aber ein Eingeständnis an die wirklichen Bedürfnisse des Menschen, der nun einmal am besten lebt, wie er träumt – allein.
»Gib mir ein Zeichen« – sagt Andri zum Himmel. Andri steht oben auf dem Dach des römischen Appartmenthauses, hat eine rote Lederjacke und für die siebziger Jahre recht kurze Haare.
Es gibt Kaninchen und Rotwein zum Abendessen, das Wohnzimmer der Familie ist hell und groß und schick eingerichtet.
In der zweiten Szene von L’Immensità tanzt und singt die Mutter kurz darauf mit ihren drei Kindern zu Raffaella Carràs »Rumore«, während sie den Tisch für das gemeinsame Abendessen deckt. Ein erster von mehreren magischen, eskapistischen Momenten, und eine Flaschenpost der Erinnerungen an eine vergangene Zeit.
In dem Moment wo der Vater nach Hause kommt, geht die Stimmung in den Keller.
+ + +
In den 70er und 80er Jahren spielt der neue Spielfilm von Emanuele Crialese. L’Immensità – Meine fantastische Mutter erzählt die Geschichte einer traditionellen bourgeoisen italienischen Familie. Auf der anderen Seite, hinter dem Schilf irgendwo in Tibernähe, wohnen »die Arbeiter«, da sollen die Kinder nicht spielen, was sie natürlich trotzdem tun. Hier lernt Andri auch Sara kennen, was später noch eine Rolle spielen wird.
Die Ehe wurde im
Schoß der heiligen katholischen Kirche geschlossen, und auch der Rest des Lebens folgt allen Riten und Ritualen des Patriarchats. In der Mitte der Familie aber gibt es zwei Menschen, die nicht in dieses System passen, und die die Gesellschaft in den Wahnsinn treiben will. Diese sogenannten »Verrückten« sind Clara, eine Frau, die zu groß ist für das wohlgepolsterte, aber standardisierte Frauenleben, das die Gesellschaft für sie vorgesehen hat, inklusive der gelegentlichen
Schläge, wenn dem Mann gerade gar nichts anderes einfällt. Die glaubt, dass sie die Freiheit mancher anderen ebenfalls haben sollte.
+ + +
Und da ist Andri, ein Junge, der das Leben leben muss, das die Gesellschaft will, denn er ist im falschen Körper geboren. Er muss zuerst mal sich selbst verstehen, um mit dem Unverständnis aller um ihn herum umgehen zu können,
Er nennt sich Andrea, kleidet und präsentiert sich wie ein Junge, und erlebt das häusliche Unglück vor allem als Erweiterung seines körperlichen Unbehagens. Denn er wurde als Andriana geboren. Andri ist zweifellos der größte Verbündete seiner Mutter, mit der ihn eine tiefe Bindung verknüpft.
+ + +
Emanuele Crialeses Darstellung einer sexistischen, vorurteilsbehafteten und ausgrenzenden Gesellschaft hält zwischen Humor und Drama die Waage und ist in der gesamten Darstellung der Familie sehr plastisch und facettenreich; sei es in der Dynamik des Alltags – in der Schwester, die nicht richtig isst, dem Bruder, der dafür zu fett ist, in den Streitereien des Paares – oder im »typisch Italienischen«: Der traditionellen Feiertagsfeiern mit getrennten Tischen für die Kinder, dem opulenten Essen, den Kinderstreichen, dem gemeinsamen Familienurlaub.
Penélope Cruz ist unglaublich gut als Mutter Clara, die zwischen vielen Zuständen wechselt und sich in diversen Gemütsverfassungen und Situationen wiederfindet.
+ + +
Man glaubt es kaum: Seit über 30 Jahren ist Penélope Cruz im Filmgeschäft. Mit 16 Jahren begann die Madriderin in Filmen ihrer Landsleute Fernando Trueba und Bigas Luna auf sich aufmerksam zu machen. So bemerkte sie der wichtigste spanische Regisseur jener Epoche, Pedro Almodóvar, der ihr in seinen Filmen Live Flesh – Mit Haut und Haar und Alles über meine Mutter Rollen gab. Aber Cruz ließ sich nie festlegen, wagte den Sprung nach Hollywood, blieb aber auch dort selbstbestimmt. Nach Filmen an der Seite von Matt Damon, Tom Cruise und Johnny Depp verlagerte Cruz ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt seit 2006 wieder nach Europa. Seitdem drehte sie dort fünf weitere Filme mit Almodóvar, dessen wichtigste künstlerische Partnerin sie wurde, sowie mit Woody Allen, Olivier Assayas
und anderen Größen des Autorenkinos. Inzwischen gehört sie zu den wichtigsten Filmstars des europäischen Kontinents, und ist längst eine Schauspielerin, die zum Zentrum ihrer Filme wird, die Filme prägt und deren Beteiligung auch Filme finanziert.
So war es auch in diesem Fall: Mit ihren 49 Jahren ist Cruz an einem Punkt ihrer Karriere angelangt, an dem Filme allein durch ihre Präsenz auf der großen Leinwand dominiert werden. Cruz verkörpert hier den eher zu seltenen Typus einer
Frau, die sich der gesellschaftlichen Normalität widersetzt. Sie bildet das strahlende Zentrum des Films: Im Grunde ist sie der schwebende Ausdruck eines ganzen Jahrzehnts, das rund um vertraute Archetypen das Leben über neue Ideen ein zweites Mal erfinden und formulieren wollte.
Noch überraschender ist die junge, unbekannte Luana Giuliani, die von Crialese ausgewählt wurde, um sein Alter ego zu spielen. Ihre Andri ist eine vielschichtige und komplexe Figur zwischen Weichheit und Aufbegehren, und es gelingt ihr, das alles darzustellen.
+ + +
L’Immensità versucht nicht, traditionell eine Story mit Anfang, Mitte und Ende zu erzählen. Was ihn interessiert, ist eine Art freie Collage, die es erlaubt, die Essenz bestimmter Emotionen einzufangen. Um diese Emotionen geht es, sie werden nur von bestimmten Situationen umrahmt, um sie besser einzufangen.
Crialese macht kein Drama aus dem Undramatischen des Lebens, er feiert Normalität, und will nur, dass sie eben für alle gilt. Das ist sehr nachvollziehbar und entfaltet seine besondere Kraft in einer Zeit, in der – Vorsicht: Gefühlte Wahrheit – manchmal alles zum Problem zu werden scheint und unnötig dramatisiert wird. Längst nicht nur im Kino.
Ein Beispiel: Als die verschiedenen Schwestern und Schwägerinnen und Freundinnen dieser Großfamilie im Urlaub in der Sonne liegen, fragen sie irgendwann: »Wo sind denn eigentlich die Kinder?« Da fällt einem heutigen Beobachter auf, wie lässig die 70er Jahre waren; wie wenig »achtsam« Eltern waren in dieser Zeit, wie man sich einfach mal in Ruhe ließ, und wie gut das war für die Eltern, wie für die Kinder, die eben nicht überbehütet waren von irgendwelchen
Helikoptermüttern.
Die Szene geht weiter: Die Kinder sind wie auch immer in irgendein ziemlich tiefes, fünf sechs Meter tiefes Loch hineingekommen. Da geht es ihnen gut, aber sie kommen nicht wieder hoch. Die Mütter befördern sie wieder heraus und nehmen dafür einfach einen Gartenschlauch, an dem sie die Kinder einzeln herausziehen. Klar: Der könnte jetzt reißen. Tut er aber nicht. Heute würden anständige Mütter aber wahrscheinlich die Feuerwehr rufen und die Männer, denn was
könnte jetzt alles passieren. Sie würden niemals im Leben einen Schlauch nehmen, sondern eine Leiter besorgen oder mindestens ein Tau. Damals in den 70ern haben sie es einfach gemacht, auch dieses einfach machen ist eine Tugend, die wir im Augenblick ziemlich vergessen haben.
Die Szene geht noch weiter: Als die Kinder dann nämlich alle gesund aus dem Loch wieder raus sind, kriegen nicht wenige von ihnen ein paar Schläge auf den Hintern (bevor die Mutter das alles mit einer Wasserschlacht
wieder auflöst). Ohrfeigen gibt es auch noch, ohne dass das den Eltern richtig Spaß macht. Dies ist etwas, wegen dem manche heute gleich das Jugendamt verständigen würden, und wahrscheinlich jetzt wenigstens den Film erst ab 18 freigeben möchten.
Es war aber Normalität, und tat, wie jeder sehen kann, der den Film sieht, der Liebe der Mütter keinen Abbruch. Und, ja: Es hat uns nicht geschadet.
Kein Drama eben, wie alles andere in diesem Film, ob Fremdgehen oder Transsexualität oder Erwachsenwerden oder die Liebe auch.
+ + +
Ein heikles Unterfangen ist dieser Film auch darum; aber eben eine bittersüße Erinnerungsreise in die 70er und frühen 80er Jahre, die schön sentimental und melancholisch ist, aber nie kitschig, und hinreichend scharfsinnig, und der außerdem in regelmäßigen musikalischen Sequenzen den italienischen Pop-Spirit jener Epoche heraufbeschwört. Einer Epoche, in der Schlimmes passierte, aber in der auch die Phantasie einmal kurz an die Macht kam, und eine gewisse Zeit lang alles möglich schien.
+ + +
Wenn wir es vorher noch nicht waren – jetzt sind wir bereit für den Italienurlaub!