L'Immensità – Meine fantastische Mutter

L'Immensità

I/F 2022 · 99 min. · FSK: ab 12
Regie: Emanuele Crialese
Drehbuch: , ,
Kamera: Gergely Pohárnok
Darsteller: Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani, Elena Arvigo, María Chiara Goretti u.a.
Filmszene »L'Immensità - Meine fantastische Mutter«
Familie auf Abwegen...
(Foto: Prokino)

Große Menschen, kleine Menschen

Emanuele Crialeses Geschichte über eine zerbrechende Mittelklassefamilie im Rom der 1970er ist intensives Coming-of-Age Kino, aber auch Milieustudie im Sinne des frühen Pasolini

Am Anfang ist nur das Wort. Das übliche Geplapper einer Familie mit drei Kindern, die eine neue Wohnung im Rom der 1970er Jahre bezieht. Über die Zickzack-Dialoge von Clara (Penélope Cruz) und Felice Borghetti (Vincenzo Amato) wird schnell deutlich, dass die Luft raus aus dieser Ehe ist und auch die neue Wohnung mit spek­ta­kulärem Blick auf Rom daran nichts ändern wird. Clara, die eigent­lich aus Spanien kommt, versucht ihren Frust durch eine Über­mutter-Beziehung zu ihren Kindern zu kompen­sieren und lebt hier die Leiden­schaften aus, die mit Felice nicht mehr möglich sind.

Dieses so über­grif­fige wie befrei­ende Bezie­hungs­an­gebot versuchen die Kinder irgendwie so gut es geht zu »neutra­li­sieren«. Die Kleinste über eine Baby­at­ti­tüde, der mittlere Sohn mit Kack­ein­lagen in versteckten Winkeln der Wohnung und die älteste, 12-jährige Adriana (Luana Giuliani) über Fluchten aus der Wohnung und ihrem Körper. Sie kleidet sich wie ein Junge und lässt sich mit dem männ­li­chen Namen Andrea adres­sieren, sobald sie das Haus verlassen hat und auch ihre Mutter Clara in ihrem uner­sätt­li­chen Bedürfnis, geliebt zu werden, geht auf dieses Spiel ein.

Crialese, der erstmals 2011 mit seinem preis­ge­krönten Debüt Terraf­erma auf sich aufmerksam machte, zeichnet dieses dysfunk­tio­nale Fami­li­en­pan­orama mit gekonnten Strichen, mal leicht, mal mit drama­ti­schen, dann wieder grotesken Unter­tönen. Er gibt dem Machismo von Felice den Raum, den es braucht, um ihn in seiner gnaden­losen Penetranz zu demas­kieren, aber ihn gleich­zeitig auch als ein »Produkt« seiner Zeit annehmen zu können, dem nicht nur seine Frau, sondern auch seine Kinder eigent­lich egal sind, der nur dann gehorcht, wenn seine wohl­ha­bende Mutter ein Machtwort spricht. So ambi­va­lent Crialese Felice in seine Insze­nie­rung einbettet, so ambi­va­lent und zerbrech­lich sind eigent­lich alle Betei­ligten, Clara in ihren zwischen Hysterie und Melan­cholie schwan­kenden Stim­mungen ebenso wie die beiden kleineren Kinder.

Nur Andrea ist für Crialese ein Ruhepol, sie ist der eigent­liche Held, die eigent­liche Heldin dieses Films. Mit ihren Augen erzählt Crialese aber nicht nur eine körper­liche und sexuelle Selbst­fin­dung und die schwie­rige Iden­ti­fi­ka­tion innerhalb des Korsetts einer italie­ni­schen Familie der satu­rierten Mittel­schicht, sondern über ihre Fluchten aus der elter­li­chen Wohnung wirft Crialese auch einen fast schon sozio­lo­gi­schen Blick auf ein Italien im Umbruch, der Baustellen und der Verdrän­gung: Denn während ihrer kleinen Fluchten aus der fami­liären Depres­sion stößt Andrea auf das andere Italien, das der Arbeiter und Armen, das auch Pier Paolo Pasolini immer wieder in seinen Filmen zeigte, in Mamma Roma (1962) mit seinen unver­ein­baren Schnitt­mengen zwischen Reichtum und Armut, Schönheit und Häss­lich­keit. Oder in Große Vögel, kleine Vögel (1966), in dem so wie in L’Immensità die Haupt­per­sonen Wanderer zwischen den Welten sind, die so verzwei­felt wie humorvoll versuchen, sich und die Welt zu verstehen und dabei zu eman­zi­pieren. Bei Pasolini sind das Vater und Sohn, bei Crialese Mutter und Tochter.

Ist es bei Pasolini jedoch der ständig nervende und die herr­schende Moral verkör­pernde Rabe, so ist es bei Crialese der Ehemann, dem am Schluss nur noch Ignoranz wider­fährt. Eine Befreiung auf Kosten der Familie, aber ein Einge­ständnis an die wirk­li­chen Bedürf­nisse des Menschen, der nun einmal am besten lebt, wie er träumt – allein.

Als das Leben neu erfunden wurde

Damals in den 70ern: Emanuele Crialese macht kein Drama aus dem Undramatischen des Lebens, er feiert Normalität

»Gib mir ein Zeichen« – sagt Andri zum Himmel. Andri steht oben auf dem Dach des römischen Appart­ment­hauses, hat eine rote Leder­jacke und für die siebziger Jahre recht kurze Haare.
Es gibt Kaninchen und Rotwein zum Abend­essen, das Wohn­zimmer der Familie ist hell und groß und schick einge­richtet.

In der zweiten Szene von L’Immensità tanzt und singt die Mutter kurz darauf mit ihren drei Kindern zu Raffaella Carràs »Rumore«, während sie den Tisch für das gemein­same Abend­essen deckt. Ein erster von mehreren magischen, eska­pis­ti­schen Momenten, und eine Flaschen­post der Erin­ne­rungen an eine vergan­gene Zeit.

In dem Moment wo der Vater nach Hause kommt, geht die Stimmung in den Keller.

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In den 70er und 80er Jahren spielt der neue Spielfilm von Emanuele Crialese. L’Immensità – Meine fantas­ti­sche Mutter erzählt die Geschichte einer tradi­tio­nellen bour­geoisen italie­ni­schen Familie. Auf der anderen Seite, hinter dem Schilf irgendwo in Tibernähe, wohnen »die Arbeiter«, da sollen die Kinder nicht spielen, was sie natürlich trotzdem tun. Hier lernt Andri auch Sara kennen, was später noch eine Rolle spielen wird.
Die Ehe wurde im Schoß der heiligen katho­li­schen Kirche geschlossen, und auch der Rest des Lebens folgt allen Riten und Ritualen des Patri­ar­chats. In der Mitte der Familie aber gibt es zwei Menschen, die nicht in dieses System passen, und die die Gesell­schaft in den Wahnsinn treiben will. Diese soge­nannten »Verrückten« sind Clara, eine Frau, die zu groß ist für das wohl­ge­pols­terte, aber stan­dar­di­sierte Frau­en­leben, das die Gesell­schaft für sie vorge­sehen hat, inklusive der gele­gent­li­chen Schläge, wenn dem Mann gerade gar nichts anderes einfällt. Die glaubt, dass sie die Freiheit mancher anderen ebenfalls haben sollte.

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Und da ist Andri, ein Junge, der das Leben leben muss, das die Gesell­schaft will, denn er ist im falschen Körper geboren. Er muss zuerst mal sich selbst verstehen, um mit dem Unver­s­tändnis aller um ihn herum umgehen zu können,

Er nennt sich Andrea, kleidet und präsen­tiert sich wie ein Junge, und erlebt das häusliche Unglück vor allem als Erwei­te­rung seines körper­li­chen Unbe­ha­gens. Denn er wurde als Andriana geboren. Andri ist zwei­fellos der größte Verbün­dete seiner Mutter, mit der ihn eine tiefe Bindung verknüpft.

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Emanuele Crialeses Darstel­lung einer sexis­ti­schen, vorur­teils­be­haf­teten und ausgren­zenden Gesell­schaft hält zwischen Humor und Drama die Waage und ist in der gesamten Darstel­lung der Familie sehr plastisch und facet­ten­reich; sei es in der Dynamik des Alltags – in der Schwester, die nicht richtig isst, dem Bruder, der dafür zu fett ist, in den Strei­te­reien des Paares – oder im »typisch Italie­ni­schen«: Der tradi­tio­nellen Feier­tags­feiern mit getrennten Tischen für die Kinder, dem opulenten Essen, den Kinder­strei­chen, dem gemein­samen Fami­li­en­ur­laub.

Penélope Cruz ist unglaub­lich gut als Mutter Clara, die zwischen vielen Zuständen wechselt und sich in diversen Gemüts­ver­fas­sungen und Situa­tionen wieder­findet.

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Man glaubt es kaum: Seit über 30 Jahren ist Penélope Cruz im Film­ge­schäft. Mit 16 Jahren begann die Madri­derin in Filmen ihrer Lands­leute Fernando Trueba und Bigas Luna auf sich aufmerksam zu machen. So bemerkte sie der wich­tigste spanische Regisseur jener Epoche, Pedro Almodóvar, der ihr in seinen Filmen Live Flesh – Mit Haut und Haar und Alles über meine Mutter Rollen gab. Aber Cruz ließ sich nie festlegen, wagte den Sprung nach Hollywood, blieb aber auch dort selbst­be­stimmt. Nach Filmen an der Seite von Matt Damon, Tom Cruise und Johnny Depp verla­gerte Cruz ihren Lebens- und Arbeits­mit­tel­punkt seit 2006 wieder nach Europa. Seitdem drehte sie dort fünf weitere Filme mit Almodóvar, dessen wich­tigste künst­le­ri­sche Partnerin sie wurde, sowie mit Woody Allen, Olivier Assayas und anderen Größen des Autoren­kinos. Inzwi­schen gehört sie zu den wich­tigsten Filmstars des europäi­schen Konti­nents, und ist längst eine Schau­spie­lerin, die zum Zentrum ihrer Filme wird, die Filme prägt und deren Betei­li­gung auch Filme finan­ziert.
So war es auch in diesem Fall: Mit ihren 49 Jahren ist Cruz an einem Punkt ihrer Karriere angelangt, an dem Filme allein durch ihre Präsenz auf der großen Leinwand dominiert werden. Cruz verkör­pert hier den eher zu seltenen Typus einer Frau, die sich der gesell­schaft­li­chen Norma­lität wider­setzt. Sie bildet das strah­lende Zentrum des Films: Im Grunde ist sie der schwe­bende Ausdruck eines ganzen Jahr­zehnts, das rund um vertraute Arche­typen das Leben über neue Ideen ein zweites Mal erfinden und formu­lieren wollte.

Noch über­ra­schender ist die junge, unbe­kannte Luana Giuliani, die von Crialese ausge­wählt wurde, um sein Alter ego zu spielen. Ihre Andri ist eine viel­schich­tige und komplexe Figur zwischen Weichheit und Aufbe­gehren, und es gelingt ihr, das alles darzu­stellen.

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L’Immensità versucht nicht, tradi­tio­nell eine Story mit Anfang, Mitte und Ende zu erzählen. Was ihn inter­es­siert, ist eine Art freie Collage, die es erlaubt, die Essenz bestimmter Emotionen einzu­fangen. Um diese Emotionen geht es, sie werden nur von bestimmten Situa­tionen umrahmt, um sie besser einzu­fangen.

Crialese macht kein Drama aus dem Undra­ma­ti­schen des Lebens, er feiert Norma­lität, und will nur, dass sie eben für alle gilt. Das ist sehr nach­voll­ziehbar und entfaltet seine besondere Kraft in einer Zeit, in der – Vorsicht: Gefühlte Wahrheit – manchmal alles zum Problem zu werden scheint und unnötig drama­ti­siert wird. Längst nicht nur im Kino.

Ein Beispiel: Als die verschie­denen Schwes­tern und Schwä­ge­rinnen und Freun­dinnen dieser Groß­fa­milie im Urlaub in der Sonne liegen, fragen sie irgend­wann: »Wo sind denn eigent­lich die Kinder?« Da fällt einem heutigen Beob­achter auf, wie lässig die 70er Jahre waren; wie wenig »achtsam« Eltern waren in dieser Zeit, wie man sich einfach mal in Ruhe ließ, und wie gut das war für die Eltern, wie für die Kinder, die eben nicht über­behütet waren von irgend­wel­chen Heli­ko­pter­müt­tern.
Die Szene geht weiter: Die Kinder sind wie auch immer in irgendein ziemlich tiefes, fünf sechs Meter tiefes Loch hinein­ge­kommen. Da geht es ihnen gut, aber sie kommen nicht wieder hoch. Die Mütter befördern sie wieder heraus und nehmen dafür einfach einen Garten­schlauch, an dem sie die Kinder einzeln heraus­ziehen. Klar: Der könnte jetzt reißen. Tut er aber nicht. Heute würden anstän­dige Mütter aber wahr­schein­lich die Feuerwehr rufen und die Männer, denn was könnte jetzt alles passieren. Sie würden niemals im Leben einen Schlauch nehmen, sondern eine Leiter besorgen oder mindes­tens ein Tau. Damals in den 70ern haben sie es einfach gemacht, auch dieses einfach machen ist eine Tugend, die wir im Augen­blick ziemlich vergessen haben.
Die Szene geht noch weiter: Als die Kinder dann nämlich alle gesund aus dem Loch wieder raus sind, kriegen nicht wenige von ihnen ein paar Schläge auf den Hintern (bevor die Mutter das alles mit einer Wasser­schlacht wieder auflöst). Ohrfeigen gibt es auch noch, ohne dass das den Eltern richtig Spaß macht. Dies ist etwas, wegen dem manche heute gleich das Jugendamt vers­tän­digen würden, und wahr­schein­lich jetzt wenigs­tens den Film erst ab 18 freigeben möchten.
Es war aber Norma­lität, und tat, wie jeder sehen kann, der den Film sieht, der Liebe der Mütter keinen Abbruch. Und, ja: Es hat uns nicht geschadet.

Kein Drama eben, wie alles andere in diesem Film, ob Fremd­gehen oder Trans­se­xua­lität oder Erwach­sen­werden oder die Liebe auch.

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Ein heikles Unter­fangen ist dieser Film auch darum; aber eben eine bitter­süße Erin­ne­rungs­reise in die 70er und frühen 80er Jahre, die schön senti­mental und melan­cho­lisch ist, aber nie kitschig, und hinrei­chend scharf­sinnig, und der außerdem in regel­mäßigen musi­ka­li­schen Sequenzen den italie­ni­schen Pop-Spirit jener Epoche herauf­be­schwört. Einer Epoche, in der Schlimmes passierte, aber in der auch die Phantasie einmal kurz an die Macht kam, und eine gewisse Zeit lang alles möglich schien.

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Wenn wir es vorher noch nicht waren – jetzt sind wir bereit für den Itali­en­ur­laub!