Mexiko/USA 2019 · 112 min. · FSK: ab 12 Regie: Fernando Frías de la Parra Drehbuch: Fernando Frías de la Parra Kamera: Damián García Darsteller: Daniel Garcia, Xueming Angelina Chen, Sophia Metcalf, Jonathan Fernando Espinoza, Gilberto Rivera u.a. |
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Eine komplexe, aufregende Charakterstudie | ||
(Foto: Netflix) |
»That’s why our theory is about not just economics but also politics. It is about the effects of institutions on the success and failure of nations – thus the economics of poverty and prosperty...« – Daron Acemoglu, James A. Robinson, Why Nations Fail
Jetzt auch noch letzte Woche die Oscar-Shortlist-Nominierung für den besten internationalen Film – mehr geht eigentlich kaum. Denn nach zahlreichen Preisen und Nominierungen wurde I’m No Longer Here bereits Mitte 2020 auch in den Netflix-Katalog aufgenommen. Eine Entwicklung, die man diesem düsteren und dichten Film nur wünschen kann, die man bei all den »No go«-Themen, die er behandelt, allerdings nicht unbedingt hätte erwarten können.
Ähnlich wie der fast zeitgleich entstandene und ähnlich starke mexikanische Film Was geschah mit Bus 670 von Fernanda Valadez nimmt sich auch Parras eines Jugendlichen an, der 2011 seine Heimat verlassen will, um in die nahen USA zu migrieren. Doch anders als bei Valadez, gelingt Parras' »Held« die Grenzquerung, die noch einmal zwingender ist, weil der 17-jährige Ulises (Juan Daniel García Treviño) in seiner Heimatstadt Monterrey mit seiner Gang »Los Terkos« zwischen die Räder zweier rivalisierender Drogenkartelle geraten ist. Das ist umso tragischer, als Ulises sich mit seiner Gang weder für Macht noch Drogen interessiert, sondern eigentlich nur für die Musik, für Cumbia lebt, eine einst aus Kolumbien importierte Musik mit westafrikanischen Wurzeln. Sie veranstalten Tanzwettbewerbe und versuchen ihre musikalische Begeisterung auch der nächsten Generation zu vermitteln.
I’m No Longer Here zeigt den jugendlichen Alltag jedoch völlig ungeschönt, er ist kein Musik- oder Tanzvideo – und macht das Versagen institutioneller Strukturen in Monterrey auf allen Ebenen deutlich. Zwar existiert auch ein ganz »normaler« Alltag, doch die Fragilität dieses Alltags ist jedem bewusst und wird auch über das Fernsehen in den privatesten Familienraum vermittelt, etwa die Berichterstattung über eine Schießerei vor einer Grundschule, während der eine Lehrerin die entsetzten Kinder mit dem gemeinsamen Singen eines bekannten Liedes beruhigt. Deshalb ist auch Ulises ab einem gewissen Punkt sofort klar, dass er seine Heimat verlassen muss, wenn er überleben will.
Mit seiner Migration nach New York erhöht Parras den Takt seiner nicht-linearen Erzählweise und verschachtelt seinen Film auf zwei Zeitebenen zunehmend. Das irritiert zwar an einigen Stellen, macht aber im Kern deutlich, dass Migration nicht nur Heimatverlust bedeutet, sondern auch das eigene Bewusstsein bis an die Grenzen strapaziert. Im Fall von Ulises sind diese Strapazen noch einmal umfangreicher, da der einstige King des Cumbia mit seinen musikalischen und tänzerischen Träumereien nicht wirklich in den USA ankommt und damit alles andere als eine »American Dream«-Geschichte erzählt wird, eine Geschichte, wie sie ja sehr gern mit dem Rahmenkorsett aus Musik und Tanz erzählt wird. Zwar versucht auch Ulises, dem Mantra »Zurück gibt es nicht, nur vorwärts« zu folgen, und er findet sogar Bewunderer, doch Parras unterläuft etwaige Erwartungshaltungen konsequent und macht unmissverständlich klar, wie hoch der Preis für eine Assimilierung ist; im schlimmsten Fall droht sogar der Verlust der »eigenen« Musik und damit Identität. Dadurch entsteht eine komplexe, aufregende Charakterstudie, die nichts mit den Plattitüden zu tun hat, die gemeinhin über migrantische Schicksale kursieren.
I’m No Longer Here hat aber bis zum Ende auch die gesamtgesellschaftliche Perspektive vor Augen und macht unmissverständlich klar, wie verfahren die politische Lage und die Aussichten auf Änderung sind. Mehr noch, wenn man mit den USA nicht nur einen der größten Drogenkonsumenten, sondern auch einen der mächtigsten Waffenhersteller der Welt zum Nachbarn hat.
I’m No Longer Here ist seit dem 27. Mai 2020 auf Netflix abrufbar.