Frankreich/B 2022 · 91 min. · FSK: ab 12 Regie: Christian Carion Drehbuch: Cyril Gely, Christian Carion Kamera: Pierre Cottereau Darsteller: Line Renaud, Dany Boon, Alice Isaaz, Jérémie Laheurte, Gwendoline Hamon u.a. |
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Therpeuten und Therapierte zugleich... | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
Es ist eine scheinbar einfache Geschichte. Die 92-jährige Madeleine (Line Renaud) lässt sich vor ihrem bisherigen Haus von einem Taxi abholen, um sich in ein Pflegeheim am anderen Ende von Paris fahren zu lassen. Während der Fahrt entspinnt sich ein Gespräch zwischen ihr und Charles (Dany Boon), dem Taxifahrer, der im Grunde nicht reden will, weil er in einer tiefen, vor allem finanziellen Lebenskrise steckt.
Und das war es dann auch schon mit der einfachen Geschichte, denn ab diesem Erweckungsmoment ist alles anders und ist es im Grunde wie in einer therapeutischen Situation inklusive Katharsis. Nur dass hier, in Charles' Taxi, beide Protagonisten sowohl Therapeuten als auch Therapierte sind. Beide erzählen sich ihr Leben und beider Leben ist ein Leben voller Hoffnung und Leid, ein Leben zweier Generationen, das das kluge Drehbuch von Cyril Gely und Christian Carion überzeugend miteinander verschränkt.
Das Ergebnis ist verblüffend. Denn erfahren wir durch Madeleines Geschichte auf dramatische Weise den prekären, steinigen Weg, den Frauen zurücklegen mussten, um sich ihre Rechte unter massiven, persönlichen Verlusten zu erkämpfen, verkörpert Charles' Weg so etwas wie die Fortsetzung. Doch die ist weit davon entfernt, die Früchte des Kampfes zu ernten – stattdessen treten andere gesellschaftliche (und persönliche) Verwerfungen in den Vordergrund, die so wie in Madeleines Leben deutlich machen, dass es nicht unbedingt ein finales Glück ist, das es im Leben zu erzielen gilt, sondern letztendlich der Weg das Ziel ist, und sei er auch noch so steinig. Vorausgesetzt es ist ein Weg, hinter dem derjenige, der seine Schritte darauf setzt, steht. Es geht also um so etwas wie Authentizität im Leben, auch in Beziehungen.
Die beiden Hauptpersonen dieses subtilen Kammerspiels verbringen am Ende einen ganzen Tag miteinander, und so wie in Jim Jarmuschs episodischem Taxi-Film Night on Earth ist das Fahren und das Taxi nicht nur ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, sondern auch ein Radar, der seine architektonische Umgebung taxiert und erklärt; erfahren wir in Carions Taxi auch über das Verschwinden des alten Paris. Doch sind die Gespräche über dieses Verschwinden glücklicherweise nicht nur schwermütige Nostalgie, sondern wird deutlich, dass so wie in den Lebenslinien der Protagonisten jeder Verlust auch etwas neues, durchaus positiv zu bewertendes Substanzielles bringt, oder um es in den Worten von Ralph Waldo Emerson zu formulieren: »For everything you have missed, you have gained something else, and for everything you gain, you lose something else.« Der Weg ist das Ziel.
Auch schauspielerisch ist diese Taxifahrt eine echte Delikatesse – nicht nur brilliert die inzwischen 94-jährige Line Renaud gleichermaßen in ihren Dialogen und Monologen und evoziert allein schon durch ihre Stimme Leben und Vergänglichkeit, Hoffnung und Verzweiflung und am Ende auch so etwas wie universelle Liebe, die erst im Loslassen ihre größte Stärke entwickelt. Doch auch Dany Boon, der ja bereits in Willkommen bei den Sch'tis an Renauds Seite spielte, überrascht durch eine Intensität, die fern von seinen bisherigen Kernkompetenzen, dem komödiantischen Fach, liegt, die gerade durch ihre ernste, dramatische Alltäglichkeit überzeugt.
Anders als in dem ebenfalls gerade in den Kinos angelaufenen, amerikanischen Ü-80 Film, Brady’s Ladies, in dem das Altern von Frauen über ein Gruppengefühl und ein Sport-Event würdevoll gestaltet wird, zeigt der Ü-90-Film Im Taxi mit Madeleine eine weitere Möglichkeit auf, macht deutlich, dass würdevolles Altern auch allein möglich ist. Aber Madeleine geht sogar noch einen sehr mutigen, nur sehr selten so öffentlich verhandelten Schritt weiter. Er zeigt, dass nicht nur würdevolles Altern wichtig ist, sondern auch: würdevolles Sterben.