Frankreich/B 2022 · 114 min. · FSK: ab 16 Regie: Dominik Moll Drehbuch: Dominik Moll, Pauline Guena, Gilles Marchand Kamera: Patrick Ghiringhelli Darsteller: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Anouk Grinberg, Théo Cholbi, Johann Dionnet u.a. |
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Der Kommissar am Tatort | ||
(Foto: Ascot Elite/24 Bilder) |
Aktenzeichen XY ungelöst. Auf dieses deutsche True-Crime-Fernsehformat lässt sich der stilsichere Krimi des französischen Regisseurs Dominik Moll herunterbrechen. Es geschah mitten in der titelgebenden »Nacht des 12.«. Nach einem ausgelassenen Abend mit ihren Freundinnen geht die junge Clara auf spärlich beleuchteten Nebenstraßen in Grenoble nach Hause. Blond und unbeschwert, Hotpants, es ist Sommer, und jetzt noch eine wohllaunige Sprachnachricht an die Freundin: Ja, es war ein gelungener Abend. Dann auf einmal ein Angriff aus dem Dunkeln, eine Flüssigkeit, ein Feuerzeug. Am nächsten Tag: Eine verkohlte Leiche im Stadtpark. Clara.
Zu diesem Tatort wird In der Nacht des 12. immer wieder zurückfinden, wenn Kommissar Yohan die Ermittlungen aufnimmt und diverse Tatverdächtige ins Visier nimmt. Begehungen des inkriminierten Ortes sind dabei ebenso vorgesehen wie die Observation und Befragung von Menschen, die sich an der Parkbank, wo die Leiche gefunden wurde, irgendwie seltsam verhalten. Alles ist suspekt. Dass die Spuren aber alle keine sein werden, wird bereits zu Beginn des Films explizit gemacht: Der erzählte Fall ist einer der vielen unaufgeklärten Morde, die in Frankreich Tag für Tag und Nacht für Nacht geschehen. Aktenzeichen XY ungelöst eben.
Einem ganzen Reigen toxischer Mannsbilder spürt Kommissar Yohan (Bastien Bouillon) als Tatverdächtigen nach, alle hatten mit Clara zu tun. Mehr noch aber wird Clara, das Opfer, in alter patriarchaler Denkweise zunehmend in ein schiefes Licht gerückt. War sie nicht doch irgendwie sexbesessen? Hat sie nicht zu einer fragwürdigen Szene Kontakt gehalten? Was hat sie dort gesucht? Warum hat sie den ihr vorgezeichneten Weg verlassen, der nach einer soliden Ausbildung mit einem einigermaßen gesättigten, auf Kleinbürgerlichkeit hinauslaufendes Leben winkte, das keine Störungen durch das Böse fürchten musste?
Auf dieses absolute, weil ohne Motiv wirkende Böse läuft es in der Untersuchung hinaus. Weder kann irgendein Tatverdächtiger ausgemacht werden, noch gibt es eine Motivlage, noch nicht einmal eine dünne, die das Umfeld von Clara zumindest im Ansatz ambivalent erscheinen lässt. Auch wenn seine Profiler den Stereotypen nachgehen, versagt sich Dominik Moll am Ende die einfache, aus dem Hut gezauberte Lösung. Was sich auch der Realität verdanken mag: Sein Drehbuch basiert auf dem dokumentarischen Recherchebuch von Pauline Guéna, die ein Jahr die Polizei von Versailles begleitet hat.
Dominik Molls Krimi fühlt sich im deutschen Kontext sehr vertraut an, wo seit fünfzig Jahren mit dem Freitagabend-Krimi und dem Sonntags-»Tatort« die Dreifaltigkeit von Opfern, Tätern und Ermittlern durchdekliniert wird. Auch dass am Ende der Fall ungelöst bleibt, auch dass der Kommissar und sein Privatleben eher durchleuchtet werden als die soziologische Gefasstheit einer Gemeinschaft, ist man hierzulande gewohnt. In Frankreich jedoch hat sich mit dem Gangsterfilm und seinen Derivaten Gefängnis- und Polizeifilm, kurz auch »Polar« genannt, seit vielen Kino-Jahrzehnten eine Genretradition herausgebildet, die direkt an die amerikanische Linie der Dreißiger anknüpft. Jules Dassin etwa verließ in der McCarthy-Ära die USA und ging als Regisseur nach Frankreich, wo er 1954 seinen ikonischen Juwelenraub-Film Du rififi chez les hommes inszenierte.
Der Gangster stand zunächst in der subversiven Tradition eines Robin Hood, war geneigt, die gesellschaftliche Ordnung als instabil zu entlarven, was auch für spätere moralisierende Triebtäterfilme wie etwa Henri Verneuils Peur sur la ville (1975) zutraf. Neben den Detektivgeschichten etablierten sich auch Polizeifilme, in denen das Kollektiv einer Polizeistation erzählt wird, meisterlich etwa in Olivier Marchals 36, quai des orfevres (2004), eine Reprise von Henri-Georges Clouzots Quai des Orfèvres (1947). Hier ging es um Korruption und Moralzersetzung innerhalb der jeweiligen Ermittlungsbrigade. Weniger kritisch, dafür beobachtend-dokumentarisch ist wiederum Raymond Depardons Polizeistationenfilm Faits divers (1983).
In der Nacht des 12. hat nichts von all dem. Hier gibt es keine Erosionen, weder in der Sozietät der Gemeinde noch der Polizisten, und der Film ist auch keine philosophische Bestandsaufnahme einer letztlich undurchdringlichen Wirklichkeit. Das Mysterium des Tathergangs wird jedoch auch nicht als Leerstelle inszeniert. Der Kommissar »lässt nicht locker«, am Ende wird man sehen, dass die Misserfolge der Ermittlung durchaus systemisch sind: Erst als eine Richterin neue Mittel bereitstellt, kann – Jahre später – die Fährte wieder aufgenommen werden. War die Wahrheitssuche in der bestehenden patriachalen Ordnung nur halbherzig? Hier zeigt der Film eine sehr politische Facette auf, wenn es vor allem im Interesse der Justiz liegt, ob ein Fall überhaupt verfolgt oder gar abgeschlossen werden kann.
Fast schon neurotisch kehrt In der Nacht des 12. immer wieder zur konkreten Leiche zurück und damit zum geopferten Körper einer unklärbaren und damit auch kontingenten Tat. Nicht die Momente vor dem plötzlichen Tod werden gezeigt, das lebendige Mädchen in seiner ganzen Durchschnittlichkeit, das girl next door, was wiederum die Unbehaglichkeit einer unzuverlässigen Idylle enthielte. Nein, gezeigt wird die verkohlte Leiche, die zarte Silhouette eines konsumierten Körpers nach seiner Verbrennung. Das birgt auch einen Schauwert, den Elisabeth Bronfen in ihrem Standardwerk über die künstlerische Darstellung toter Frauen »Nur über ihre Leiche« so beschreibt: »Bildliche Darstellungen von Tod und weiblicher Schönheit wirken ästhetisch anziehend und abstoßend zugleich. Sie lösen ein Schwanken zwischen Faszination und Schrecken aus.« Nach Bronfen ist die Darstellung des toten weiblichen Körpers ein Symptom für eine misslungene Verdrängung, das versucht, »eine Art Gleichgewicht zu wahren, aber einen verschlüsselten Hinweis auf das [gibt], was die Ordnung stören könnte.«
Diese bildliche Erinnerung an die Tat arbeitet also unerbittlich gegen die Verdrängung und damit letztlich gegen das gesellschaftliche und juristische Bestreben, die Akten zu schließen und die Schrecklichkeit der Welt zu vergessen. In der Nacht des 12. bleibt zwar alles offen, aber es verschließt auch niemand die Augen. Der unabgeschlossene Fall bringt die Erkenntnis: Die letzte Wahrheit kann nur der für den Menschen unerklärbare Tod sein.