Belgien/F/Libanon 2017 · 86 min. · FSK: ab 12 Regie: Philippe van Leeuw Drehbuch: Philippe van Leeuw Kamera: Virginie Surdej Darsteller: Hiam Abbass, Diamond Abou Abboud, Juliette Navis, Mohsen Abbas, Moustapha Al Kar u.a. |
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Überleben im Bürgerkrieg |
Denk ich an Syrien in der Nacht... der Tag bricht an für eine Familie in der Altstadt von Damaskus, mitten im Krieg. Helikoptergeschrabbe, Bombenschläge, Maschinenpistolen – die Geräuschkulisse ist noch fern und doch ganz nah, draußen vor der Tür. Oum Yazan und ihre drei Kinder, ihr Schwiegervater und die philippinische Haushaltshilfe Delhani versuchen im Ausnahmezustand eine Normalität aufrechtzuerhalten. Die Wohnung im zweiten Stock ist geräumig, aber der Blick auf den Parkplatz im Innenhof ist verhangen, aus Angst vor möglichen Scharfschützen. Dazu kommt, dass Halima, die junge Nachbarin aus der ausgebombten Wohnung über ihnen, mit ihrem Baby bei der Familie unterkommt. Samir, ihr Mann, plant mit ihr die Flucht. Eigentlich für diesen Tag. Doch die Realität ist schneller: Delhani beobachtet aus dem Küchenfenster, wie Samir beim Laufen über den Parkplatz erschossen wird. Da sind noch keine zehn Minuten Film rum. Der weitere Verlauf zeigt die Stunden danach, ein Tag und eine Nacht in dieser einen Wohnung, und die Tragödie des Tages: Delhani und Oum Yazan versuchen, Halima von dem Vorgefallenen in Unkenntnis zu wahren. Eine Unmöglichkeit, die sich am Ende des Tages rächt, und das gute Verhältnis zu Halima zerstört. Ihr Vertrauen in die Familie ist dahin. Entsetzt über den Vertuschungsversuch bringt sie nurmehr Verachtung für die Familie auf.
Oum Yazan dominiert die Handlung, mit Grandezza verkörpert vom israelisch-palästinensischen Star Hiam Abbass (Die syrische Braut, Eran Riklis 2004). Wie eine Löwenmama hält sie die Familie auf Trab, immer darauf bedacht, dass die Tür gut verriegelt und dreifach gesichert ist. Man denkt an Das Boot: Die ausharrende Familie erinnert dann an dessen Besatzung, mit Mutter Oum Yazan als Kommandant Prochnow. Aber weder die Besatzung noch der Kapitän können hier mit aller Gewissheit sagen, ob sie auf einem Boot oder auf einer Insel sind.
Als Zuschauer wird man schnell gefangengenommen, in diesen Mauern. Man zuckt zusammen, wenn hinter den Fenstern eine Detonation simuliert wird, ganz überrascht, wie schnell man sich der Illusion einer Kulisse, die sich in Wahrheit in Beirut befindet, ergeben hat. In aller Konsequenz ist Innen Leben ein Kammerspiel. Zu keinem Zeitpunkt verlässt die Kamera die Wohnung. Doch, einmal: Samir muss zurück an Bord geholt werden. Wie in einem Weltraum-Explorerfilm scheint sein Körper draußen zu treiben, ein Astronaut im All.
Es ist viel darüber diskutiert worden, ob die Vergewaltigungsszene in aller Drastik nötig war. Es stimmt, dass sie hart ist, schmerzt, und man sich aufgewühlt fragt, wer davon profitiert, das zu sehen. Man hat da eigentlich keine Lust darauf. Man will da raus. Und genau solche Gedankengänge und Reaktionen sind das, was ein Film über Syrien hervorrufen muss. Hier wird keine Zukunft entworfen. Innen Leben ist eine Art Nacherzählung: Seht her, das ist in Syrien passiert. Es ist frustrierend, was sonst.
Die Autorin Rosa Yassin Hassan arbeitet seit Jahren die systematische Gewalt gegen Frauen in Syrien auf, spricht mit Frauen, die vom Geheimdienst eingekerkert wurden, gedemütigt und vergewaltigt. Sie schrieb vor kurzem in der Zeit: »Alles, was vor 2011 in den Verliesen versteckt vor sich ging, trat in seiner ganzen Widerwärtigkeit für alle sichtbar zu Tage.« Mit Blick auf die Zehntausenden, die hinter Mauern verschwunden sind, erschließt sich Oum Yazans doppelt- und dreifaches Türverriegeln als paradigmatische Kehrseite. Der einzige Moment der Ruhe ist, als Oum auf dem großen Salontisch liegt, innehaltend, Kraft tankend. Kein Bett kann in dieser Wohnung diese Ruhe bieten, einzig der Tisch kann das.
Innen Leben ist sicher kein erbaulicher Film. Dennoch gab’s auf der Berlinale den Publikumspreis für den besten Spielfilm – zurecht! In der Nachbetrachtung wächst der Film, er führt ein Innenleben. Die vermeintliche Stärke von Oum Yazan wird als Schwäche, ja als Fehler erkannt. Der Fehler, auf Kosten der Wahrheit mit Schweigen zu mauern. Aus Feigheit, die menschlich ist. Paradoxerweise ist es gerade der Schutz der Wohnung, der so zu einer Allegorie auf den Staatsapparat gerät, auf das Sicherheitssystem von Assad. An Syrien zu denken ist nicht leicht. Aber was haben Sie erwartet?