Frankreich/B 2021 · 124 min. · FSK: ab 12 Regie: Emmanuelle Bercot Drehbuch: Emmanuelle Bercot, Marcia Romano Kamera: Yves Cape, Mathieu Caudroy Darsteller: Catherine Deneuve, Benoît Magimel, Gabriel Sara, Cécile de France, Oscar Morgan u.a. |
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Mehr als Abschiednehmen neue Begegnungen suchen und sich emanzipieren lernen | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
As an oncologist, I feel that we have to heal the souls of people, he says. We treat their cancer with chemo, with surgery, with radiation and all of this stuff. They may work. But who is trying to heal the soul of that person? Are we thinking about it? It’s a patient, not a machine or number. We have to really look at the whole person. I can’t treat a breast. I treat the patient and then the family as well. – Dr. Gabriel Sara
Krebsfilme sind inzwischen schon ein eigenes Genre, das so komplex ist wie die mannigfaltigen Formen des Krebsleidens an sich. In den letzten Jahren gab es so überragende wie schwache Variationen dieses Themas, haben wir Valérie Donzellis und Jérémie Elkaïms hyperreales Das Leben gehört uns (2011) gesehen, ein Film für Erwachsene, obwohl dort ein Kind im Zentrum des Krebsleidens steht. Dass Krebsfilme, also Filme über das Sterben und die fragile Hoffnung auf ein Überleben, im Kinderfilm- und Jugendfilmbereich ebenfalls fantastisch funktionieren können, zeigte Dennis Bots 2012 mit seinem Starke Mädchen weinen nicht; dass sie sogar Blockbuster-Qualitäten haben können, machte dann die Bestseller-Verfilmung Das Schicksal ist ein mieser Verräter (2014) deutlich; ein Zug, auf den auch André Erkau mit Gott, du kannst ein Arsch sein! (2019) aufspringen wollte, eine Tragikomödie wie ein Familientreffen, bei dem sich Til Schweiger und Heike Makatsch mit Benno Führmann und Jürgen Vogel herumschlagen müssen, während die krebs- und sterbenskranke Tochter mit einem bildungsfernen Halbwaisen aus dem Zirkus eine Art therapeutischer Katharsis und natürlich »Coming of Age« erlebt. Zum Glück startete fast zeitgleich Milla meets Moses, der das Thema so nah und nebensächlich, wie das Leben und der Tod nun einmal sind, abhandelt.
Emmanuelle Bercots De son vivant ist im Vergleich zu den erwähnten Filmen von sehr anderer Natur. Denn zum einen steht in diesem Film kein Kind im Zentrum, sondern der 40-jährige Schauspieler Benjamin (Benoît Magimel), der unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt und sich in seinen letzten Monaten nicht nur von seiner übergriffigen Mutter Crystal (Catherine Deneuve), sondern auch von seinem bisherigen Leben und seinen Träumen emanzipieren muss. Zum anderen geht es in Bercots Film nicht nur um die Konfrontation mit dem Tod an sich und die dadurch provozierte Veränderung der Beziehungen zu Angehörigen und Familie, die sich im Laufe des Films durch zahlreiche Nebenschauplätze überraschend erweitert und In Liebe lassen (so der deutsche Titel des Films) dann auch einen zunehmend emotionalen und komplexen Tiefgang verleiht. Einen Tiefgang, den einige Betrachter mit Kitsch oder aufgesetzter Sentimentalität assoziieren mögen. Doch wie Bercot ihre Charaktere und deren Gefühle zeichnet und mit den Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten des Lebens versetzt, ist für mich wirkliches, gelebtes Drama, umso mehr noch, als es Bercot immer wieder gelingt, dieses Drama über Gesten und Blicke statt über starke Dialoge zu demonstrieren. Und wenn es denn doch einmal Dialoge sind, werden sie in dem »dekonstrukiven« Rahmen von Benjamins Schauspielschülern lebendig.
Was In Liebe lassen jedoch völlig anders macht, ist die Einbeziehung des Klinikpersonals. Denn eine weitere und vielleicht die zentrale Figur in Bercots Film ist der Onkologe Dr. Eddé, der nicht nur Benjamin und seine anderen Patienten auf ungewöhnlich empathische und offene Weise betreut, sondern auch mit dem Personal, anderen Ärzten und Pflegern kreative Supervisionsrunden anregt, um gemeinsam zu lernen, Krankheit und Tod souveräner und vor allem ganzheitlicher entgegenzutreten. Dieser ganzheitliche und in Bezug auf Dr. Eddé beeindruckend charismatische Ansatz erinnert an Maria Speths Herr Bachmann und seine Klasse, einen Dokumentarfilm, in dem ein Lehrer porträtiert wird, der an seiner Schule in Hessen so empathisch und ganzheitlich arbeitet, wie wir es in Bercots Film im Klinikalltag um Dr. Eddé erleben.
Und wahrscheinlich berühren gerade diese Szenen mit ihrer fast schon flirrenden Authentizität fast noch mehr als das fiktive Schicksal von Benjamin, weil Dr. Eddé keine fiktive Person ist, sondern von dem realen Onkologen Dr. Gabriel Sara dargestellt wird, den Emmanuelle Bercot auf einer Film-Tour kennengelernt hatte, um ihn dann auf seiner Krebsstation in New York zu besuchen und sich von dem, was sie dort sah, zu ihrem Drehbuch inspirieren zu lassen.
Ein Drehbuch, das Bercot zu einen Film transformiert hat, der nicht nur berührt und nachdenklich stimmt, sondern Mut macht, auch in riskanten, sensiblen Momenten mehr Offenheit (und Gnadenlosigkeit) zu wagen. Ein Film, der angesichts des Themas fast schon behutsam mit dem Thema »verlorenen« Lebens umgeht, dafür aber umso stärker auf die »Überlebenden« und ihre Beziehung zu dem Sterbenden fokussiert und beeindruckend zeigt, dass der Kranke erst dann »entspannt« sterben kann, wenn seine Nächsten auch bereit sind, ihn sterben zu lassen.