USA/GB/Indien/DK/IS 2016 · 78 min. · FSK: ab 12 Regie: Kristín Ólafsdóttir, Hrund Gunnsteinsdottir Drehbuch: Hrund Gunnsteinsdottir Musik: Úlfur Eldjárn Kamera: Faye Schnitt: Sotira Kyriacou |
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Bäume wachsen intuitiv in den Himmel |
Die Isländerin Hrund Gunnsteinsdottir ist früh durchgestartet und schnell ausgebrannt: Ihren Traum einer unbefristeten Stelle bei den Vereinten Nationen hatte sie sich bereits in ihren 20ern erfüllt. Doch das regelmäßige Arbeitspensum von 100 Wochenstunden forderte seinen Tribut: Burn-Out und Kündigung mit 29 Jahren. Wie weiter?
Gunnsteinsdottir entschließt sich, ihre eigenen Erfahrungen in Zusammenarbeit mit der befreundeten Filmemacherin Kristin Ólafsdottir zu verarbeiten und dabei den Wurzeln des Übels und den Quellen einer möglichen Heilung auf den Grund zu gehen. Hierbei findet sie einen Schlüsselbegriff in der eigenen alten isländischen Sprache: InnSæi. Dieser meint gleichzeitig das innere Meer, der Blick nach innen und der Blick von innen nach außen.
Der Ausgangspunkt für die folgende filmische Reise ist Gunnsteinsdottirs Erkenntnis, dass sie – und mit ihr viele andere Menschen der heutigen Zeit – vollkommen von ihrem Gefühlsleben und von ihrer Intuition abgeschnitten sind. Entsprechend rational und fast didaktisch beginnt Gunnsteinsdottir bei einem Harvardprofessor – der muss es ja wissen! – die tiefere Bedeutung der Intuition zu erfragen.
Das ist alles ein wenig dröge und mutet sehr nach den gängigen Selbsthilfeprogrammen an. Doch am Firmament glimmt ein Funken der Hoffnung – auch auf einen interessanten Film – in Form von Gunnsteinsdottirs Interesse für die tiefere gesellschaftliche Dimension dieser inneren Isolation. Es ist ein Nebensatz, der einen anfangs aufhorchen lässt: Bei ihrer Arbeit bei den Vereinten Nationen hatte Gunnsteinsdottir den Eindruck, dass auch viele der dort beschlossenen Maßnahmen ohne eine innere Verbindung zu den betroffenen Menschen gemacht wurden – und deshalb nur mäßig wirksam waren.
Mit anderen Worten: Das Abgeschnittensein von den eigenen inneren Quellen verursacht nicht nur viel persönliches Leid, sondern ist ebenfalls die Wurzel weitreichender gesellschaftlicher Missstände. Ein afrikanischer Wissenschaftler, mit dem sich Gunnsteinsdottir unterhält, geht sogar so weit zu sagen, dass das Abgetrenntsein des Menschen von sich selbst auch die Ursache der Entfremdung von der Natur – und der entsprechenden Umweltzerstörung sei. Was sich wiederum in der Missachtung der Frau in patriarchalischen Gesellschaften spiegle.
Es sind solche Sequenzen, in denen InnSæi immer wieder die Ebene eines reinen Selbsterfahrungetripps einer stressgebeutelten Existenz verlässt und in wesentlich tiefere Dimensionen vorstößt. Das die – heute bei uns oftmals verschüttete Intuition – sowieso der beste Navigator ist, wussten hierbei bereits die alten polynesischen Seefahrer: Diese navigierten sicher durch die Meere, indem sie ihren inneren Kompass folgten. Dies führte zugleich zu einer deutlich gesteigerten Schärfe der äußeren Wahrnehmung. Denn es sind die kleinen Details – die einem ansonsten leicht entgehen – die den Unterschied machen: So künden feine Wasserspiegelungen schon von Ferne von der Nähe der nächsten Insel.
Doch solch ein innerer Kompass ist gerade dem sich so modern wähnenden Menschen meist gänzlich abhanden gekommen. Dies zeigt mit großer Eindringlichkeit die Episode des Film, in welcher Marina Abramović – eine Künstlerin mit wissenschaftlich nachgewiesenermaßen deutlich erhöhter Hirnaktivität – im Jahre 2010 im New Yorker Museum of Modern Art eine Performance mit dem Titel »The Artist is Present« durchführt:
»Present« bedeutet in diesem Fall nicht bloß, dass die Künstlerin tatsächlich sitzenderweise vor Ort anwesend war, sondern meint insbesondere auch, dass Abramović bei dieser Aktion um maximale Präsenz bemüht war. Die Aktion bestand äußerlich aus nichts weiter, als einem Kreis mit Wartenden, in dessen Zentrum zwei Stühle standen. Auf einem saß die Künstlerin und auf dem anderen wechselnde Probanden. Doch diese Versuchsanordnung hatte bei vielen Menschen sichtlich tiefgreifende Auswirkungen, welche Abramović folgendermaßen erklärt:
»Das Warten war ein Teil der Aktion. Dadurch, dass immer viele andere Besucher herumstanden und die Aktion beobachteten, versuchten die Menschen im Kreis zur Stressvermeidung das Außen auszublenden. Sobald ich sie anblickte war diese Konfrontation so intensiv, dass die Menschen sich unweigerlich auf ihr Inneres zurückzogen. Auf diese Weise erfuhren viele Besucher zum ersten Mal ihr wahres Ich.«
Viele dieser Besucher brachen in Tränen aus ...