Großbritannien 2002 · 90 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Winterbottom Drehbuch: Tony Grisoni Kamera: Marcel Zyskind Darsteller: Jamal Udin Torabi, Enayatullah, Imran Paracha, Hiddayatullah u.a. |
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Dem Elend den Rücken gekehrt |
Enayat, ein junger Afghane aus Peshawar, Pakistan, soll von seiner Familie nach London geschickt werden. Sein jüngerer Cousin Jamal, ein Waisenjunge aus dem Flüchtlingslager Shamshatoo, der in einer Ziegelfabrik schuftet, soll ihn begleiten, weil er im Gegensatz zu dem Älteren etwas Englisch kann. Obwohl es gefährlicher als mit dem Flugzeug ist, machen sich die beiden mit Hilfe bezahlter Menschenschmuggler auf dem weniger teuren Weg über das Land.
Über 4000 km müssen sie
zurücklegen und folgen dabei zum Teil der alten Seidenstraße. Sie reisen mit dem Bus, auf der Ladefläche von Pick-Up-Trucks und hinter Apfelsinenkisten verborgen auf einem LKW, werden ertappt und wieder laufengelassen, müssen dabei immer wieder Geld bezahlen. Sie treffen aber auch auf Hilfsbereitschaft, als sie sich anschicken, zu Fuß die türkische Grenze zu überqueren. Den tragischen Höhepunkt findet ihre Reise in einem Container: als der Lastwagen nach über 40stündiger
Schiffsreise in Triest entladen wird, kann nur noch einer der beiden seine Reise fortsetzen ...
Michael Winterbottom lässt In This World wie eine TV-Dokumentation beginnen: Über einer Landkarte informiert ein Off-Sprecher über die Situation in Peshawar und Shamshatoo darüber, dass die Bomben des Afghanistan-Krieges mehr gekostet haben als die Hilfe, die den Flüchtlingen zuteil wird. Immer wieder wird anhand dieser Karte gezeigt, wie weit die Reisenden auf ihrem Weg schon gekommen sind.
Auch die Bilder wirken dokumentarisch, fernab jeden filmischen
Glamours: Mit einer DV-Kamera ohne künstliches Licht fängt Kameramann Marcel Zyskind die Atmosphäre ein und geht bei der nächtlichen Überquerung des türkischen Grenzpasses an das Limit des technisch Machbaren. Beeindruckend auch die Aufnahmen im Container, wo die Beklemmung im Lichtkegel einer Taschenlampe deutlich wird. Das Drehbuch, das Tony Grisoni nach ausführlichen Gesprächen mit Flüchtlingen schrieb, dient als Grundlage für improvisierte Szenen mit
Laiendarstellern: Jamal Udin Thorabi und Enayatullah stammen wirklich aus Peshawar, die chronologisch gefilmte Reise mit dem Filmteam war ihre erste Begegnung mit dem Ausland. Ihr Befremden, ihre Reaktionen auf die neuen Erfahrungen sind echt.
Da fällt es trotz der etwas kitschigen Musik leicht zu vergessen, dass wir doch immer nur dem Blick, der Perspektive des Filmemachers folgen können, dass wir nur erfahren, was dieser bereit ist, zu erzählen. Warum gilt eigentlich als ausgemacht, dass die beiden nach London müssen? Menschenschmuggel ist teuer – wäre mit dem Geld nicht im Land selbst mehr anzufangen? Doch welche Sehnsüchte, welche Notlagen hinter der Migration stecken, wissen wir im Fall der Hauptpersonen nicht genau, und auch bei der kurdischen Familie, die die beiden in der Türkei kennen lernen, erfahren wir nichts über die Motivation und sind auf unser Allgemeinwissen angewiesen. Regisseur Michael Winterbottom zeigt nur die Anstrengungen, Opfer und Risiken, die für den Weg auf sich genommen werden, und verweigert sich so der üblichen Einteilung in politische und Wirtschaftsflüchtlinge, mit der bei uns die akzeptablen von den unerwünschten Flüchtlingen getrennt werden.
Der Weg nach Europa wird eindrücklich illustriert: allmählich verändern sich von Zwischenstation zu Zwischenstation Stadtbild, Verkehr, Kleidung (besonders der Frauen) und Essen – was dem europäischen Zuschauer immer vertrauter erscheint, eröffnet den Reisenden eine völlig neue Welt. Die Arbeitsplätze ändern sich, von der Ziegelbrennerei im Freien über den türkischen Keller, in dem lärmend Besteck gestanzt wird, bis zum Londoner Cafe. Doch eines haben alle Orte gemeinsam, etwas ersetzt die in der anderssprachigen Fremde verloren gegangene Ausdrucksfähigkeit: überall wird Straßenfußball gespielt. Bei allen Unterschieden ergibt sich so etwas Verbindendes, das selbst im französischen Flüchtlingslager Sangatte bei Calais die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben nährt und alle Unterschiede zu negieren scheint. Dagegen wirkt das Schlussbild des Gebetes in der Moschee ambivalent, kann doch die beiläufige Frömmigkeit den Gedanken an die Bedrohung des Islamismus wecken. Wo ist der Protagonist angekommen?
Vom Film wieder in die Realität: Die bürokratischen Hürden der Dreharbeiten waren oft nur durch Schummelei zu überwinden: zur Erlangung der Drehgenehmigung wurde vorgeschoben, der Film sei eine Dokumentation über die alte Seidenstraße. Und die echten afghanischen Pässe schienen den Behörden nicht glaubwürdig genug, deshalb mussten gefälschte pakistanische gekauft werden.
Natürlich gab es Befürchtungen bei britischen Ämtern, die Protagonisten würden nicht wieder
ordnungsgemäß ausreisen. Zum Vertrag mit den Hauptdarstellern gehörte deshalb, dass sie nach Abschluss der Dreharbeiten wieder nach Peshawar zurückgebracht wurden. Enayatullah konnte nicht schnell genug heimkommen zu seiner Familie und seinem Elektronikwaren-Marktstand. Jamals verwitwete Mutter dagegen investierte die Gage ihres Sohnes in ein Flugticket und schickte ihn kurz vor Ablauf seines Visums wieder nach London, um seine vier Brüder mit dem dort zu verdienenden Geld zu
unterstützen: Die Realität als Spiegelung der Filmhandlung. Deshalb auch die (nicht fiktive) Angabe am Ende des Films, dass Jamals Asylantrag zwar abgelehnt wurde, er jedoch eine Duldung bis zum Tag vor seinem 18. Geburtstag erhalten habe. Dann wird der heute 15jährige nach Afghanistan geschickt werden, in ein Land, in dem er nie gelebt hat.
Neben dem Goldenen Bären wurde In This World auf der Berlinale mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet. Andreas Dresen, selbst als Regisseur in dokumentarischer Spielfilmarbeit bewandert, verweist in seiner Laudatio auf eigene Erfahrungen im alltäglichen Umgang mit Immigranten und lobt den Regisseur für seinen Mut, die »Geschichten hinter den Gesichtern« zu erzählen.
Michael Winterbottom steht zu den politischen Implikationen seines Films:
»Would I like my movie to change the world? – Yeah, sure.«