USA 2019 · 209 min. · FSK: ab 16 Regie: Martin Scorsese Drehbuch: Steven Zaillian Kamera: Rodrigo Prieto Darsteller: Robert De Niro, Al Pacino, Anna Paquin, Joe Pesci, Harvey Keitel u.a. |
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Nur in ausgewählten Kinos: Wiedersehen mit Scorseses »goodfellas« |
Die Kamera fließt. Sie fließt wie ein langer ruhiger Fluss, verlässlich, nie stehenbleibend, mal schnell und zuckend wie ein Gebirgsbach um kleine Stromschnellen, dann wieder verbreitert sie sich zu einem Delta, dreht sich um sich selbst, und der Blick des Zuschauers erfasst die ganze Szene. Es ist die minutenlange Auftaktsequenz zu einem Film, der sich alle Zeit nimmt, und sich auch sonst den Gesetzen des Gegenwartskinos verweigert.
Die Kamera fließt durch Korridore und um Ecken, begleitet von einem Radiohit aus früheren Jahren, dem Lied »In the Still of the Night«. Aber im Gegensatz zu einigen sehr ähnlichen Sequenzen aus früheren Filmen Martin Scorseses, die zur unverwechselbaren Handschrift dieses Regisseurs und seiner Kameramänner Michael Ballhaus und Robert Richardson gehören – befinden wir uns weder in einem Nachtlokal, noch in einer Spielhölle, sondern in einem Altenpflegeheim. Statt Kellner und Musiker, statt dienende Männer und Frauen sieht man Ärzte und Pfleger. Das Leben zeigt sich von seinen unangenehmsten Seiten.
In dem Raum, in dem die virtuose Kamerafahrt schließlich zum Stillstand kommt, wartet ein alter Mann in einem Rollstuhl. Der Tod ist nahe. In den nächsten dreieinhalb Stunden wird er diesen Tod noch einmal aufhalten, indem er seine Geschichte erzählt. Mal witzig, mal schrecklich, vor allem absurd in ihrem Ineinandergreifen von Witz und Schrecken. Aber immer dunkel. Schluss mit lustig. Scorsese stülpt in diesem Film das Innere all seiner früheren Filme und wendet es – zumindest ein wenig – gegen diese selbst. Der Tod ist nahe.
Man sollte daher alles vergessen, was man zu wissen glaubt und erwartet von einem Film von Martin Scorsese. Zwar löst The Irishman alles dies ein: Der 25. Spielfilm des italoamerikanischen New Yorker Meisterregisseurs, der seit 45 Jahren, seit seinem Welterfolg Taxi Driver zu den besten Kinokünstlern seines Landes gehört, der ein Dutzend maßgeblicher, auch stilprägender und star-gespickter Werke gedreht hat und trotzdem immer auf Distanz zu Hollywood blieb, ist über zweieinhalb Stunden ein sehr unterhaltsamer Gangsterfilm. Intelligent und kurzweilig, bezaubernd charmant – und bezaubernd altmodisch.
Vor allem darin, wie er ungerührt, so romantisch und liebevoll, wie zugleich klarsichtig und kritisch von einer Handvoll knallharter Männer erzählt, deren Leben aus Männerrivalitäten besteht, aus Protzen und Angeberei, aus schicken Anzügen, glänzenden Autos und schönen Frauen, aus Drinks und Knarren.
Und aus einem immer schon fragwürdigen Ehrbegriff, der nicht nur viel mit Frauen und Verbrechen zu tun hat, sondern noch viel mehr und vor allem mit der Fähigkeit zu schweigen.
Dies ist die Adaption eines 15 Jahre alten Sachbuchs über Frank Sheeran, einen Mann, der die Schnittstelle zwischen der Mafia und der mafiös unterwanderten amerikanischen Fernfahrergewerkschaft bildete. Diese war seit Mitte der 50er Jahre für zwei Jahrzehnte mit dem Namen von Jimmy Hoffa verbunden, eines legendären Gewerkschaftspräsidenten, der die Regierenden in Washington offen herausforderte, besonders den demokratischen Justizminister Robert Kennedy, der erfolglos versuchte, ihm das Handwerk zu legen.
Hoffa, der im Kino bereits mehrfach verkörpert wurde, unter anderem von Jack Nicholson (1992 in einem Biopic, das von David Mamet geschrieben und von Danny DeVito inszeniert wurde), wurde zu einem Medienhelden. »Er war wie Elvis«, heißt es im Film, »in den 60ern war er größer als die Beatles.«
Aber 1975 verschwand Hoffa spurlos, 1982 wurde er für tot erklärt – ein aufregender, bis heute rätselhafter Fall. Bei Frank Sheeran handelt es sich nun um jenen Mann, der sich selbst des Mordes an Hoffa bezichtigte. Der Film erzählt auch diese Geschichte.
So weit, so gut. Und so erwartbar. In der letzten Stunde des Films ändert sich die Perspektive aber komplett. Da wird aus dem Film ein bewegendes Portrait über das Altern, über Verrat und über Bedauern. Das Ende enthüllt die Wahrheit über Anfang und Mitte davor.
Dieser Film ist ein Ereignis! Auch weil er ein neuer Meilenstein der digitalen Technologie und ihrer Fähigkeit zur Bildermanipulation bedeutet. Denn alle Figuren altern oder verjüngen sich hier mit vor allem technischer Unterstützung über Jahrzehnte.
The Irishman versammelt zwei der größten lebenden Star des amerikanischen Kinos: Robert de Niro (als Frank Sheeran) und Al Pacino (als Jimmy Hoffa) überhaupt erst zum zweiten Mal in ihrer Karriere im gleichen Film.
Vor allem aber ist dies ein Parcours durch die vergangenen siebzig Jahre US-amerikanische Geschichte, durch jenen Teil des amerikanischen Jahrhunderts, in dem Macht und Geld, Politik und Verbrechen, fast ununterscheidbar miteinander verschlungen waren. Ein Jahrhundert, in dem sich alle idealistischen Hoffnungen, die mit ihm – gerade auch in Amerika! – verbunden waren, zerschlugen.
In The Irishman zieht Martin Scorsese Bilanz. Er zeigt eine Handvoll jener »alten weißen Männer«, von denen derzeit so viel und gern und oft verächtlich geredet wird, und zeigt, wie sie alle, ob sie nun den Film überleben, oder eben in den meisten Fällen nicht, letztendlich Gescheiterte sind. Der Regisseur bilanziert aber auch das eigene Lebenswerk: Was war das alles? Wofür? Wozu war es gut?
Auch wenn Scorsese, der in diesen Tagen 77 Jahre alt wird, bestimmt noch einige Filme in sich trägt: Man kann The Irishman nicht anders als als sein Vermächtnis deuten.
Er ist eine Rückkehr zu Scorseses Ursprüngen. Und zu einigen seiner besten Filme. Dies ist in seinem Anspruch, aber auch stilistisch und handwerklich Scorseses bester Film seit über 20 Jahren, seit Casino und Goodfellas.
Ein herausragendes Filmwerk, das das Kino mit seiner großen Leinwand unbedingt verdient. Auf einem kleineren Bildschirm, egal was für einem, sollte man ihn nicht sehen. Da verpasst man zuviel.