Iran 2023 · 77 min. · FSK: ab 6 Regie: Ali Asgari, Alireza Khatami Drehbuch: Ali Asgari, Alireza Khatami Kamera: Adib Sobhani Darsteller: Majid Salehi, Gohar Kheirandish, Sadaf Asgari, Hossein Soleimani, Sarvin Zabetian u.a. |
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Die Dame ohne Hündchen | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Denkt man an den Iran, fallen einem prompt die gnadenlos unterdrückten Massenproteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini ein. Die junge Iranerin wurde festgenommen, weil sie nicht vollständig verschleiert war und starb durch Polizeigewalt. Außerdem denkt man an überfüllte Gefängnisse und öffentliche Hinrichtungen. Die Anklage gegen die Exekutierten lautete »Verbrechen gegen Gott«. Obwohl sie »nur« gegen das Herrschaftssystem demonstriert hatten.
Um solche Schreckensnachrichten geht es in Irdische Verse nicht. Im Hintergrund schwingen sie jedoch mit und sorgen beim Zuschauen für große Spannung. Im Vordergrund geht es um die Sorgen und Nöte von neun Durchschnittsmenschen.
Da ist zum Beispiel ein Vater, der seinen frisch geborenen Sohn nicht David nennen darf – der Name ist unislamisch. Da ist ein fröhliches Mädchen, das keine Lust hat, Verschleierung zu tragen. Ein Mann, der den Führerschein abholen will, sich jedoch entkleiden und für Tattoos rechtfertigen muss. Eine Frau, die auf einer Polizeistation verzweifelt nach ihrem Hündchen fragt, das entführt wurde und zwar ausgerechnet von Polizisten.
Diese drei wie auch die anderen sechs Episoden haben eine formale Gemeinsamkeit. Man sieht nur die Bürgerinnen und Bürger. Von ihren Gegenübern, den Beamten, die den Staat repräsentieren, hört man nur die Stimmen. Diese Beschränkung erweist sich als enorme Bereicherung. Alle Menschen haben ein Gesicht. Der Staat dagegen wird als gesichtslose, repressive Macht entlarvt, deren Vertreter absurde Regeln als Normalität anpreisen. Wer sie nicht befolgt, gilt als nicht normal oder sogar als renitent. Ihm blühen Schikanen, Ausgrenzung, Verhaftung oder noch viel Schlimmeres.
Dementsprechend lösen die Stimmen der tumben, unsichtbaren Staatsdiener Befremden und Entsetzen aus. Die Bürgerinnen und Bürger, die hartnäckig und geschickt für ihre Würde und ihre natürlichen Rechte kämpfen, muss man unbedingt bewundern.
Wie haben Alireza Khatami und Ali Asgari, die gemeinsam Regie geführt und das Drehbuch geschrieben haben, vom Ministerium für Kultur nur das Budget für so einen subversiven Film bekommen? Das haben sie natürlich nicht. Das Duo hat eigenes Geld zusammengelegt, Freunde zusammengetrommelt und den Film in sieben Tagen gedreht – ohne um Erlaubnis zu fragen.
Trotz dieser spezifischen Umstände ist Irdische Verse mehr als ein Film über die Zustände im Iran. Jeder Drehbuchautor, der schon einmal eine Besprechung mit einer deutschen TV-Redaktion hatte, erlebt ein unheimliches Déjà-vu. Die scheinheiligen Argumentationsketten, mit denen Drehbücher verharmlost, entschärft und ihrer ursprünglichen Aussage beraubt werden, ähneln sich. Im Iran wird für Änderungswünsche der Koran herangezogen. Angeblich, damit keine religiösen Gefühle verletzt werden. In Deutschland heißt die Zensurkeule Quotendruck. Beliebt ist auch die Floskel: Das können wir unseren Zuschauern nicht zumuten. Haben die deutschen TV-Redaktionen im Iran hospitiert? Oder die iranischen Zensurwächter bei deutschen TV-Redaktionen? Wahrscheinlicher ist, dass die Folgen von Inkompetenz, Selbstherrlichkeit und Machtmissbrauch auf der ganzen Welt ähnlich aussehen. Dummheit ist universell und zeitlos.
Tatsächlich hat schon im Jahr 1984 der Dramatiker Franz Xaver Kroetz einem selbstherrlichen Fernseh-Redakteur in dem Stück »Furcht und Hoffnung der BRD« ein grandioses, satirisches Denkmal gesetzt. Kroetz’ Szenenfolge wiederum war inspiriert von »Furcht und Elend des Dritten Reiches«, das Bertolt Brecht zwischen 1935 und 1943 im Exil schreiben musste.
Diese Vergleiche lösen den Wunsch aus, so eine brillante Satire wie Irdische Verse auch über die aktuelle politische Situation in Deutschland zu sehen. Das Erstarken rechter Parteien zeigt, dass die Demokratie in Europa nicht so fest im Sattel sitzt, wie es lange Zeit aussah. Sie ist kein Gut, das man nur einmal erwerben muss, wie ein paar Schuhe. Stattdessen scheint sie ein flüchtiger Zustand zu sein, den man sich ständig erarbeiten oder sogar verteidigen muss.
In diesem Sinne sorgt Irdische Verse nicht nur für Empörung über die unmenschlichen Zustände im Iran. Der Film ist auch ein ergreifendes Plädoyer für Freiheit, Individualität und für die Privatsphäre jedes Menschen, in die sich niemand einmischen sollte.