USA 2017 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Craig Gillespie Drehbuch: Steven Rogers Kamera: Nicolas Karakatsanis Darsteller: Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney, Julianne Nicholson, Caitlin Carver u.a. |
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Übergrelles Leben: Tonya Harding |
Sie gehörte zu den schillerndsten Eiskunstläuferinnen ihrer Generation. Tonya Harding war die Frau des schlechten Geschmacks, was Kostüme und Musikauswahl anbelangte, war athletisch-gedrungen, und – für eine Eiskunstläuferin, der normalerweise das Lächeln im Gesicht festgefroren ist – deutlich schlecht gelaunt. Statt Eisprinzessin zu sein wie Zeitgenossin Katarina Witt oder ihre direkte Konkurrentin Nancy Kerrigan, dem »Schneewittchen auf dem Eis«, war sie für die Öffentlichkeit »the ice witch«, die Eishexe. Tonya Harding war die erste amerikanische Läuferin (und die zweite Frau weltweit), die den dreifachen Axel sprang. Der nicht am Eiskunstlauf interessierten breiten Masse wurde sie allerdings erst bekannt, als sie 1994 mit einem Eisenstangen-Anschlag auf ihre unmittelbare Konkurrentin Nancy Kerrigan in Verbindung gebracht wurde. Sie wurde daraufhin lebenslang vom Eisverband gesperrt.
Tonya Harding entstammt dem White-Trash-Amerika und war damit ein Outsider in der bürgerlich geprägten Eiskunstwelt. Als ihre Mutter sie mit vier Jahren zum Eiskunstlauftraining anmeldet, raucht diese ein Zigarillo auf dem Eis, so erzählt es jetzt das Biopic I, Tonya. »Rauchen auf dem Eis ist verboten«, sagt die Trainerin – die erste Transgression im geschützten Raum der bezaubernden Eisprinzessinen hat stattgefunden. Weitere – dokumentarisch verbürgte – Transgressionen folgen: in Heimarbeit genähte, schlecht sitzende Kostüme in grellen Farben, unmögliche Dauerwellen, anstatt eines standesgemäßen Pelzmantels (für das Image der Eisprinzessinnen als höhere Töchter empfohlen) ein Ungetüm aus dem Fell selbstgeschossener Kaninchen. Awful!
Den Codex des Hässlichen kostet Regisseur Craig Gillespie genüsslich aus. Der Film entwickelt eine sehr darke Ebene, die von der systematischen Diskriminierung der Unterschicht erzählt – die Noten der Kampfrichter fallen für Tonya Harding trotz sehr guter Leistung meist schlechter aus als für ihre systemkonformen Kolleginnen, den All-American Girls. Hinzu kommt die Medienhetze, die sich auf die schlecht sitzenden Kostüme und Tonyas von Domestic Violence gezeichneten Privatleben stürzt – zuerst schlägt sie die Mutter, dann der Ehemann, immer wieder müssen Blutergüsse überschminkt werden. Der siebte Boulevard-Himmel wird erreicht, als der Anschlag auf Nancy Kerrigan geschieht. Die »ice witch« wird Opfer einer Hexenjagd.
I, Tonya ist ein Mockumentary, das sehr lustvoll all den Dreck nach außen kehrt, der zum dramatischen Niedergang einer der besten Skaterinnen der USA führte. Produziert hat das Biopic die australische Schauspielerin Margot Robbie, die selbst auch Tonya spielt. Robbie ist Amateur-Eishockeyspielerin und hat vier Monate trainiert, um die Harding'schen Moves auf dem Eis nachzuahmen; für die schwierigen Parts gab es Profi-Doubles. Sie gesellt sich damit zu den Hochleistungsschauspielerinnen Natalie Portman, die für Darren Aronofskys Black Swan ein Jahr Ballettunterricht nahm (und sich wohl trotzdem in den meisten Szenen doubeln ließ, wie sich nach dem Oscar herausstellte) oder jetzt Alicia Vikander, die für die Rolle der Lara Croft in Tomb Raider hartes MMA- und Klettertraining absolvierte, um eine vorzeigbare Action-Performance zu liefern. Für Robbie haben die Eislaufkünste nicht für den Oscar gereicht; die versierte Zuschauerin erkennt mit bloßem Auge, dass hier nicht alles so perfekt ist, dass es auch im wirklichen Leben zu einer Medaille reichen könnte.
Überzeugend und humorvoll ist die Inszenierung aber allemal – auch gerade wegen solcher Brüche. Gefilmt wurde auf Zelluloid, was den Bildern Tiefe und einen natürlichen Retro-Touch verleiht, die virtuose Handkamera, die die Eislaufszenen einfängt, verlängert den Tanz auf schwindelerregende Weise in die filmische Gestaltung hinein. Regisseur Gillespie unterbricht die fortlaufende Biopic-Handlung immer wieder für Interviews, die im historischen 4:3-Fernsehformat geframed sind. Hier sprechen die drei Hauptakteure direkt in die Kamera: Tonya Harding, ihre Mutter Lavona (Allison Janney, die für ihre mit Furor gespielte Rolle einen Oscar bekam) und Ehemann Jeff Gillooly (Sebastian Stan). Das ergibt einen schönen All-is-real-Effekt. Alle Interviews, so wird uns im Vorspann verraten, wurden mit den echten Protagonisten der Skandalstory geführt, und tatsächlich sieht man im Abspann Ausschnitte der Originalinterviews – inklusive des Papageis, der Mutter Harding im Film ein Ohr abkaut.
Gillespie verzichtet sonst jedoch auf die Einbeziehung des umfangreichen Materials, das vorliegt: Fernsehübertragungen der Wettkämpfe, Szenen vor und nach dem Eis, Interviews aus der Zeit, eine ungeschnittene Aufnahme des Attentats auf Kerrigan und eine »never-before-seen footage« inklusive. Er setzt im Gegenteil auf originalnahes Reenactment. Dies ist auch der wesentliche Unterschied zur ganz aus dokumentarischem Material bestehenden Serie »OJ: Made in America« über den Football-Spieler O.J. Simpson, die letztes Jahr den Oscar als bester Dokumentarfilm erhielt – beide Sportler-Schicksale weisen jedoch wesentliche Schnittpunkte auf.
1994, das Jahr des Kerrigan-Attentats, war auch das Jahr, in dem O.J. Simpson wegen mutmaßlichen Mords an seiner Frau vor Gericht kam. Über beide Fälle wurde live berichtet, damals immer noch ein Novum. Eine Parallele ist aber auch die jeweils anders gelagerte Ungerechtigkeit der Verfahren, hinter der sich offenkundige Misogynie und eine generelle Verachtung der niederen Klasse verbergen. Der schwerreiche O.J. Simpson wurde trotz belastender Beweislage freigesprochen; Tonya Harding wurde zu einer hohen Strafe verurteilt, obgleich ihr eine wissende Beteiligung am Anschlag nicht nachgewiesen werden konnte; die eigentlichen Täter, ihr Mann und dessen Freund, kamen vergleichsweise glimpflich davon.
I, Tonya will mit dieser Ungerechtigkeit aufräumen und rehabilitiert die Eiskunstläuferin als Opfer ihrer Umstände. Dies erscheint aus unserer heutigen Sicht ein wenig zu naheliegend, ist jedoch ein relevantes Gegennarrativ zum immer noch bestehenden öffentlichen Bild, das die Harding mit ihrer schrillen Einzigartigkeit nie akzeptiert und stets als Täterin erzählt hat. Auch insofern ist der Film feinstes Thinkatainment: Er verbindet Unterhaltung auf höchstem Niveau mit einer tiefgehenden Erkenntnis über das vorurteilsbeladene Wirken unserer Gesellschaft.