Dänemark/S 2012 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Thomas Vinterberg Drehbuch: Tobias Lindholm, Thomas Vinterberg Kamera: Charlotte Bruus Christensen Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp, Lasse Fogelstrøm, Susse Wold u.a. |
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Zählt Tätscheln auch schon als Jagen? |
Lucas ist kein Macho, sondern sensibel, sanft, zärtlich und tierlieb. Er ist das, was man früher einen »Softie« genannt hätte – heute sagt man dazu »moderner Mann«. Er arbeitet darum auch nicht als Banker oder Börsenfuzzi, noch nicht mal als Arzt oder Handwerker, sondern als Kindergärtner! Wow. Gibt es einen »unmännlicheren«, einen »weicheren« Beruf? Immerhin wird en passent mitgeteilt, dass er mal Lehrer war. Erst seit die Schule geschlossen hat, ist der Lehrer nun Kindergärtner.
Damit der Kontrast und das Erstaunen unter uns Zuschauer noch größer werden, hat Regisseur Thomas Vinterberg diese Rolle mit Dänemarks größtem internationalem Filmstar Mads Mikkelsen hier überdeutlich »gegen den Strich« besetzt, und damit man ihm seine Softness auch wirklich glaubt, hat er Mikkelsen auch noch eine Brille auf die Nase gesetzt, und zwar natürlich ein Kassengestell.
Filmemachen nach Strickmuster: Wie zeige ich sensible, verletzbare, moderne Männlichkeit? Mit
einer Brille.
Der Film beginnt damit, dass Lucas in seinem Freundeskreis gezeigt wird. Eine Jagdgesellschaft. Klar: Das setzt die Metapher für den Film, nimmt Späteres vorweg: Erst die Jagd aufs Wild, dann die auf den Menschen. Es zeigt Lucas auch in einer explit männlichen Runde: Waffe, Sport, Nacktbaden, Schnaps, gegenseitiges Verarschen, Männerspäße, Männersprüche, Männerbünde. Das soll uns sagen: Lucas ist zwar Kindergärtner, und hat eine sensible Seite, aber keine Sorge: Er ist schon auch »ein richtiger Mann«.
Das muss man schon klarstellen, denn Lucas hat eben auch eine andere Seite. Er mag Kinder. Nicht nur den eigenen Sohn, Marcus – auch insofern ist das der Film zum Osterfest: Sie heißen hier alle wie Evangelisten –, sondern auch alle anderen, die der Nachbarn, der Freunde. Er ist nett, ihnen ein Spielkamerad, ein vertrauter Freund, ein unglaublich beliebter, »lustiger« Erwachsener. Unglaublich vor allem: Man kann die ganze Figur kaum glauben.
Zum Beispiel Klara. Neuerdings entwickelt das kleine Nachbarsmädchen eine besonders enge Beziehung zu Lucas, der auch ein Freund ihrer Eltern ist. Die streiten sich viel, und darunter leidet Klara. Einmal steht sie verloren in der Gegend herum, und Lucas hilft ihr, einmal bittet sie ihn, mit ihm zusammen zum Kindergarten gehen zu dürfen. Lucas nimmt das kleine Mädchen an der Hand begleitet es.
Dann, ein paar Tage später, reagiert Lucas – aus Stress, oder auch dem Bedürfnis eine Grenze zu ziehen – sehr unwirsch auf Klara und weist ihre doch sehr unschuldige Zuneigung etwas brüsk zurück: »Kiss is for Mummy and Daddy only.« Unwillentlich provoziert er damit das, was folgt: Aus einer Laune heraus beschuldigt ihn das enttäuschte fünfjährige Mädchen nämlich indirekt des Missbrauchs. Die etwas trutschige Kindergarten-Chefin Grethe macht aus der dummen Bemerkung des Mädchens sofort eine Staatsaffaire; Lucas verliert seinen Job, und ist plötzlich er Outcast des kleinen dänischen Dorfes, in dem alles spielt.
Mit Das Fest gewann Thomas Vinterberg 1998 in Cannes die Goldene Palme. Sehr oberflächlich gesehen greift der dänische Regisseur in Die Jagd fünfzehn Jahre später die Thematik seines bislang größten Erfolges wieder auf: Kindesmissbrauch. Diesmal aber steht anstatt der Verdrängung von Familiengeheimnissen ein falscher Verdacht und eine Hexenjagd im Zentrum. Mehr und mehr wird Lucas im Dorf ausgegrenzt, mehr und mehr Freunde ziehen sich von Lucas zurück. Er wird beschimpft und gedemütigt, und es trifft natürlich auch seinen Sohn, und die noch zu ihm halten. Das schrecklichste Ereignis des Films ist aber von der Inszenierung her und also aus der Sicht der Zuschauer fraglos der Tod des Hundes, der auf den kapriziösen Namen Fanny hört, und plötzlich erdrosselt im Garten liegt.
Zur großen Katharsis kommt es dann am Weihnachtsabend, in der Kirche. Da sitzt ein geschundener Lucas vor dem Altar, blickt aufs Kreuz, hört dem Pfarrer zu, kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Und Klara begreift und gesteht, es sei an allem nichts dran gewesen. So erlebt Lucas in der Kirche seine Auferstehung als Mitmensch und Bürger.
Schnitt. Schwarzblende. »Ein Jahr später« hört der Film dann auf. Man sieht eine Männer-Jagdgesellschaft, und die Welt ist weitgehend wieder in Ordnung. Marcus, der Sohn wird in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen. Und der Kreis des Lebens dreht sich eine neue Runde. Mit Hilfe von Mikkelsens starker Darstellerleistung macht Vinterberg die Folgen des Puritanismus zum Thema: Er zeigt, wie leicht die Gesellschaft verrückt wird, wie Menschen aus einem Kindervorwurf heraus
ein Leben ruinieren können. Statt Unschuldsvermutung gilt plötzlich Schuldvermutung, in dubio contra reum.
Dies ist auch das Drama einer Empörung und einer Paranoia: »So etwas denken sich Kinder doch nicht aus!« sagt Grethe und übergibt sich.
Man könnte natürlich auch mal über Normalität reden: Vielleicht spinnt eine Gesellschaft, die aus einem Kindervorwurf heraus ein Leben ruiniert, und vielleicht reagiert Lucas über, wenn er die sehr unschuldige Zuneigung des Kindes derart unsensibel zurückweist.
Vinterbergs Position zur grassierenden Missbrauchsdebatte erscheint indes nach einigem Nachdenken auch sehr einseitig. Denn wir Zuschauer wissen zwar, dass Lucas nichts Verbotenes getan hat. Daher ist es für uns leicht, auf seiner Seite zu sein und mit ihm durch Dick und Dünn zu gehen.
Dem Regisseur gleiten die Erzählfäden gleich im Dutzend aus der Hand. Da ist die Geschichte der offenbar ausländischen Geliebten von Lucas. Sie ist eigentlich nur dazu da, um – ja wozu
eigentlich? Wir wissen nicht, woher sie stammt. Wir sehen, wie sie auch Probleme bekommt, als Lucas in Missbrauchsverdacht gerät. Sehen, dass sie offenbar zu Lucas steht, und dann doch nicht richtig, und irgendwann von ihm rausgeschmissen wird. Sie soll also dramaturgisch zum einen klar machen, dass das Geschehen Lucas wirklich mitnimmt, und natürlich, dass er »ein normaler Mann« ist, dass also in den Augen der Zuschauer auch nicht der Schatten einer Distanzierung aufkommt, weil
Lucas kleine Mädchen an der Hand nimmt und zum Kindergarten begleitet.
Ansonsten scheint der Film fast frauenfeindlich: Denn keine einzige Frau kommt wirklich gut weg. Die Frauen reagieren aus Sicht der Zuschauer völlig übertrieben. Was sich bewährt, ist dagegen der Männerbund der Jagdgesellschaft. Hier halten zumindest einige Freunde zu Lucas.
Man sieht dann zudem im Film, wie mehrere ältere Frauen Klara einreden, es sei »etwas geschehen«, wie sie ignorieren, dass das kleine Mädchen sehr früh mehrfach wiederholt, sie habe etwas Dummes gemacht. Wir Zuschauer lernen also: Alles Unsinn mit diesen Missbrauchsvorwürfen, alles übertriebene Hysterie. Die wahren Opfer sind die vermeintlichen Täter. Und, nicht zu vergessen: Der arme Hund.
Hier ist Vinterberg ziemlich nahe an einer Abwieglung und Relativierung des
Missbrauchsthemas. »Kinder erzählen nicht immer die Wahrheit« lernen wir. Filmemacher allerdings auch nicht. Worum es in Die Jagd nämlich wirklich vor allem geht, ist noch etwas ganz anderes: Es geht darum, Thomas Vinterberg zurück in die A-Liga der Regisseure und in den Wettbewerb nach Cannes zu bringen, seine erschütterte Reputation als Regisseur wiederherzustellen. Ein klarer Missbrauch des Missbrauchsthemas.
Dies ist also ein ziemlich reaktionärer Film. Inhaltlich. Ästhetisch ist er vollkommen bieder. Ein Schrei des Regisseurs nach Liebe. Psychologisch verständlich. Mich hat er genervt. Wenn man nun danach fragt, welche Lektion die Hauptfigur und wir Zuschauer mit ihr erhalten, dann kommt man darauf: Du kannst dich auf kaum jemanden verlassen. Auf Frauen schon gar nicht. Du solltest nicht zu nett zu anderen sein, zu Kindern schon gar nicht. Und Männer als Kindergärtner gehören sowieso verboten.