Deutschland 2007 · 88 min. · FSK: ab 6 Regie: Ann-Kristin Reyels Drehbuch: Marek Helsner, Ann-Kristin Reyels Kamera: Florian Foest Darsteller: Constantin von Jascheroff, Josef Hader, Luise Berndt, Sven Lehmann, Judith Engel u.a. |
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Vorweihnachtszeit in der Uckermark |
Schweigen kann eine Tugend sein. Schweigen kann Naturzustand sein. Es kann ein soziales Verhalten sein und eine Geste. Es kann ein Zeichen des Todes sein. Wenn einer schweigt, bedeutet das nicht notwendig immer, dass ihm die Worte fehlen. Manchmal ist Schweigen auch eine Haltung gegenüber der Welt. Schweigen ist definitive all das in Jagdhunde, dem wunderbaren Debütfilm, der den Fipresci-Preis für den besten Forum-Film der diesjährigen Berlinale gewonnen hat.
Ann-Kristin Reyels ist eine vielversprechende Regisseurin. In ihrem ersten Langfilm erzählt sie die Geschichte einer disfunktionalen Familie. Ein neuer Wohnort, die raue, auf den ersten Blick nahezu leblose Winterlandschaft der Uckermarck – die flache, bevölkerungsarme und bäuerlich dominierte Region zwischen Berlin und der polnischen Grenze – funktioniert als Katalysator für ihre inneren Konflikte. Nie sah bürgerliche Leben weniger spektakulär, nie öder aus als an den Tagen vor Weihnachten, wie sie dieser Film zeigt.
Im Zentrum steht der 16-jährige Lars (gespielt vom großartigen Constantin von Jascheroff, dem man zuerst in der Reihe A Certain Regard in Cannes 2005 in der Hauptrolle in Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner begegnete). Seit einigen Monaten lebt Lars' Familie auf einem Hof, außerhalb eines kleinen Dorfes. Sie wollen ihn in ein »Hochzeitshotel« umbauen, aber es ist nicht klar, ob es hier überhaupt noch viele Hochzeitspaare gibt. Aus Gründen, die einstweilen unklar bleiben, ignorieren die Dörfler die Neuankömmlinge. Lars Mutter ist ausgezogen, im Streit mit dem Vater. Gerade wohnt sie irgendwo in einer größeren Stadt, vielleicht Berlin. Nur der Vater ist übrig. Er scheint ein guter Mensch zu sein, allerdings ist er auch schwach und irgendwie frustriert – und ein großer Redner ist er auch nicht. Und dann gibt es noch zwei wunderschöne große Jagdhunde mit denen Lars gern stundenlang in die Wälder der Umgebung verschwindet, rund um einen kleinen See, der gerade zugefroren ist.
Über die bevorstehenden Weihnachtstage soll Lars zu seiner Mutter fahren, doch dummerweise verpasst er den Zug. Auf dem Rückweg trifft er Marie (Luise Berndt), ein stummes Mädchen aus dem Dorf, in das er sich schnell verliebt. Die Szenen ihres ersten Treffens sind auffällig gut inszeniert and besonders excellent beobachtet – es gibt da ein wundervolles und sehr sehr witziges Tischtennis-Spiel, in dem sich die Schauspieler mit Laien mischen.
Lars also taut allmählich auf, und mehr und mehr erhitzen sich auch die anderen emotionalen Beziehungen. Die metaphorische Topographie und der Symbolismus von Schnee, Eis, Frost und Kälte, des Erhitzens und Aufwärmens ist in diesem Film durchgängig und überaus wichtig.
Ann-Kristin Reyels ist eine sehr gute und sensible Beobachterin, voller Empfänglichkeit und Verständnis für zarte Gesten und kleinste Veränderungen des menschlichen Verhaltens. Ihre Erzählweise ist elliptisch und atmosphärisch. Ihr Blick auf die Welt entdeckt jeden einzelnen Menschen als ein Rätsel für sich. Die Einflüsse der Gesellschaft und der Erziehung werden dabei in ihrer Bedeutung nie ignoriert, aber jenseits von ihnen steht das Mysterium der Existenz, das unbekannte Territorium der Individualität. Reyels und ihr – offensichtlich sehr talentierter – Drehbuchautor Marek Helsner zeigen ein Leben fern leicht durchschaubarer Kausalität, beide sind interessiert an Situationen – Jagdhunde ist gleichzeitig eine Familienchronik und die Dekonstruktion jeder harmonieseligen Vorstellung von Familienleben. Lars ist das Medium in dieser Zerreißprobe.
Reyels und Helsner tun dies mit einer Menge Witz und Humor. Vielleicht ist dies die größte Überraschung von Jagdhunde: Dies ist ein deutscher Film mit viel Witz. Und sein Humor ist nie billig, dumm oder infantile, wie so viele sogenannte »Deutsche Komödien«, die man besser »Deutsche Klamotten« nennen sollte. Zugleich ist dies ein Beispiel sehr guten Filmemachens. Stilistisch nicht fern von einigen Vertretern der jungen »Berliner Schule« – Reyels, 1976 geboren, studierte an der Filmschule HFF in Potsdam –, verbindet der Film deren ästhetischen Ernst und Ehrgeiz mit einer Menge Humor und Lust am Unterhaltsamen – eine Kombination, die einem auch Maren Ades (Toronto und Sundance-)Erfolg Der Wald vor lauter Bäumen ins Gedächtnis ruft, ebenso wie die erwachsenen und im gleichen Moment übersprudelnden, spielfreudigen Komödien der französischen Filmemacherin Agnes Jaoui – letztere sind gewiß noch ein bisschen reifer und selbstbewusster als Jagdhunde. Aber die Grundrichtung ist die gleiche, und man darf erwarten, dass Reyels sich weiter in sie entwickelt. Einen bedeutenden Beitrag leistet dabei das gut geführte Ensemble. Besonders die Leistung von Josef Hader als Lars' Vater ist wunderbar, ebenso wie die von Judith Engel als seine Tante.
Am Weihnachtsabend eskaliert die familiäre Situation. Lars' Mutter kommt zurück, begleitet offenbar von einem neuen Liebhaber, und muss erkennen, dass ihre Schwester inzwischen bei ihrem Mann eingezogen ist. Das Resultat ist ein einzigartiges Gemisch aus Komödie, Tragödie und Freizügigkeit, wie man es lange nicht gesehen hat im Kino der letzten Zeit, nicht nur aus Deutschland.
Jagdhunde ist eine Familien-Komödie voller Ver-rücktheit und von verstörender Offenheit. Es ist eine intelligente, dabei sehr ergreifende Arbeit mit einem Auge für die Wirklichkeit und einem Herz für die Einsamen. Man kann sie zugleich aber auch als eine zeitgemäße Version von Franz Schuberts Winterreise ansehen.
Abgesehen von seinem einzigen Schwachpunkt, einem unbefriedigenden, und ein bisschen zu einfachen Ende, ist der Film voll von
lakonischen, dichten Szenen; er ist melancholisch und voller Lust, und mischt »typisch deutschen Romantizismus« mit einigen universalen Fragen der menschlichen Existenz: Nach Beziehungen und Neuanfängen, nach Isolation und Freiheit, nach Sprache und nonverbaler Verständigung, nach Leben – und Tod.