Es ist ein Vorurteil unserer Zeit, dass das Alter nur mit Abbau gleichgesetzt wird. Darüber schmunzelt der Weinkenner, der genau weiß, dass erst mit wachsender Reife der wahre Genuss kommt. Clint Eastwood ist ein altes und tief verwurzeltes Gewächs, dessen natürliches Habitat seit Jahrzehnten das kleine kalifornische Städtchen Carmel ist. Eastwood ist ganz organisch und über Jahrzehnte hinweg langsam als Künstler gereift. Mitte der Fünfziger begann er mit kleinen Nebenrollen in Filmen wie Tarantula (1955), bevor er zur Fernsehserie Tausend Meilen Staub wechselte.
Erst Sergio Leone machte den Schauspieler 1964 zu einem Star, in dem er ihm die Hauptrolle in dem Italowestern Für eine Handvoll Dollar gab. Diese Rolle bekam er jedoch nur, weil Leone kein Geld hatte, einen damals bereits etablierten US-Schauspieler zu engagieren. 1971 folgte Eastwoods erste Regiearbeit mit dem Reißer Sadistico. Zwanzig Jahre später erhielt er seinen ersten Regie-Oscar für den Western Erbarmungslos (1992), eine Dekade später folgte sein bisher zweiter Oscar für das Boxer-Drama Million Dollar Baby (2004).
Seither sind bereits zehn weitere Jahre vergangen und Eastwood dreht immer weiter und das zumeist auf sehr hohem Niveau. Jersey Boys ist bereits sein achter Film seit Million Dollar Baby. Einen Oscar wird Eastwood für die Verfilmung des gleichnamigen Broadway-Musicals um die Doo-Woop-Gruppe „The Four Seasons“ zwar nicht erhalten, aber auch dieses Werk mundet und zeigt einen Regie-Altmeister, der hier sichtlich seinen Spaß hatte:
Jersey Boys schildert die bescheidenen Anfänge und den rasanten Aufstieg der Gruppe „The Four Seasons“: Es beginnt Anfang der 50er-Jahre in Newark, New Jersey. Nick DeVito (Vincent Piazza) hat kleine Auftritte mit seiner Band „Variatones“ und begeht ebenfalls kleine Einbrüche, um sich über Wasser zu halten. Sein Blatt beginnt sich erst zu wenden, als der begnadete Falsett-Sänger Francis Castellucio (John Lloyd Young) aka Frankie Valli zur Gruppe stößt. Der Durchbruch kommt, als der virtuose Songwriter Bob Gaudio (Erich Bergen) die Gruppe – zu der auch noch der Bassist Nick Massi (Michael Lomenda) gehört – zu einem Quartett ergänzt. Bald nennen die Vier sich in „The Four Seasons“ um und stürmen mit ihrem Hit „Sherry“ 1962 die Hitparade.
Doch trotz des stetig zunehmenden und über Jahrzehnte anhaltenden Ruhms und des Reichtums ist nicht alles eitel Sonnenschein. Der Familienvater Frankie leidet unter Eheproblemen, Nick Massi unter Nichtbeachtung und Nick DeVito unter einer kriminellen Verschwendungssucht, welche die gesamte Band an den Rand des Abgrunds treibt. Spätestens als der lokale Mafiaboss Gyp DeCarlo (Christopher Walken) zu Beratungszwecken hinzugezogen wird, merkt selbst Nick DeVito langsam, dass die Lage für ihn verdammt erst geworden ist...
Bereits mit seinem ebenfalls auf wahren Ereignissen beruhenden Neo-Noir Der fremde Sohn (2008) hatte Clint Eastwood bewiesen, dass er sich hervorragend darauf versteht, das historische Amerika des frühen 20. Jahrhunderts zu neuem Leben zu erwecken. Die liebevolle Ausstattung stimmte bis ins kleinste Detail, statt sichtbares CGI zeigte Eastwood reale historische Orte im Los Angeles der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Regisseuren wie Martin Scorsese oder Brian de Palma verzichtete Eastwood auf virtuose visuelle Spielereien, wie endlose Kamerafahrten und setzte stattdessen auf völlige Durchdachtheit und auf Präzision. Hinzu kam ein unwirklicher Sepiaton und ein magisches Licht, welche die Szenerie in den Bereich der modernen amerikanischen Mystik enthoben.
All diese Qualitäten finden sich auch in Jersey Boys, auch wenn der Film nicht in der Glamour-Metropole der Westküste, sondern zwei Dekaden später in einem Underdog-Viertel in New Jersey beginnt. Fast schon zu auffallend artifiziell ist der bewusste Vintage-Look, der an den Stil amerikanischer Illustrierter aus dieser Zeit erinnert. Gelungener sind die Nachtansichten, welche die Schäbigkeit verschwinden lassen und blitzende Karossen aus einer satt schwarzen Dunkelheit hervortreten lassen. Erneut arbeitet Eastwood mit einer sehr klassischen, fast unsichtbaren Kameraführung. Aber auch in diesem Film sitzt jede einzelne Kamerabewegung perfekt, gibt es statt langer Fahrten kurze gezielte Schwenks, die manchmal einfach abrupt abbrechen – einfach weil Clint Eastwood es kann.
In einer Szene verlassen Frankie und seine zukünftige Frau bei ihrem ersten gemeinsamen Date ein Lokal und kommen auf der anderen Seite der Tür bereits als frisch verheiratetes Paar aus einer Kirche heraus. Diese Art von Lässigkeit steht dem Film ausgesprochen gut zu Gesicht. Viel zu aufgesetzt wirkt hingegen, wenn immer wieder einzelne Bandmitglieder unmotiviert das Kinopublikum ansprechen, um die Handlung zu kommentieren. Dieser „Kniff“ wirkte wahrscheinlich zu der Zeit frisch, in welcher der Film spielt. Heute hingegen ist dieses Stilmittel recht abgestanden. Zudem doppeln diese Kommentare zumeist nur das, was bereits das Bild erzählt. Es fehlen ironische Brüche oder Feinheiten der individuellen Sicht, die einen echten Mehrwert erzielen würden.
Ganz schlimm wird es, wenn in einer der letzten Szenen des Films die sichtlich gealterten Bandmitglieder zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder gemeinsam auf der Bühne stehen. Mit ihren überdeutlich sichtbaren und völlig überzogenen Masken wirken die vier fast wie ihre eigenen Karikaturen in der Satire-Sendung „Spitting Image“. Diese unfreiwillige Komik potenziert sich zusätzlich, wenn jetzt einer nach dem anderen banale Kommentare an das Kinopublikum richtet. Hier hat Clint Eastwood sichtlich nichts aus seinen Fehlern in seinem letzten Film J. Edgar (2011) gelernt. Zum Glück gibt es noch ein Ende nach dem Ende. Das wiederum ist so wunderbar leicht, wie der Schluss in Fellinis 8½ (1963).
Jersey Boys ist im umfangreichen Gesamtwerk von Clint Eastwood eher ein kleinerer Nebensatz. Aber für einen vergnüglichen Kinoabend reicht dieser Musikfilm allemal, insbesondere, wenn man etwas mit den Evergreens der „Four Seasons“ anfangen kann.