Juror #2

USA 2024 · 114 min. · FSK: ab 12
Regie: Clint Eastwood
Drehbuch:
Kamera: Yves Bélanger
Darsteller: Nicholas Hoult, Toni Collette, Zoey Deutch, Kiefer Sutherland, Gabriel Basso u.a.
Juror #2
Schuldig den Juror geben
(Foto: Warner Bros. Entertainment)

Kein Recht für Niemand

Clint Eastwoods neuester »letzter Film« stellt dem amerikanischen Justizsystem die Vertrauensfrage: Wie kann sich Gerechtigkeit aus subjektiven Standpunkten ergeben?

Regie bei 41 Lang­filmen, der größte Star des populären Italowes­terns, mitt­ler­weile 94 Jahre alt (und damit älter, als es Elvis heute wäre): Die Persona Clint Eastwood muss niemandem mehr nahe­ge­bracht werden, sie steht sinn­bild­lich für das klas­si­sche ameri­ka­ni­sche Erzähl­kino, liefert unauf­haltsam alle paar Jahre einen neuen Film ab. Jeder scheint der »letzte« zu sein und wird in diesem Kontext auch bespro­chen, immer wieder wähnt man sich im nächsten Schwa­nen­ge­sang. Als solchen jedoch insze­niert Eastwood auch sein neuestes Werk Juror #2 nicht, das Thema Tod scheint ihn wenig zu inter­es­sieren.

Zwar beginnt der Film mit einer Leiche, diese dient jedoch nur als Aufhänger, um sich auf den exakten Gegensatz zu konzen­trieren: Das Leben und seine ihm inhärente Selt­sam­keit, seine Wirrungen, die sich schlichtweg nicht auflösen lassen. Es geht um den werdenden Vater Justin Kemp (gespielt von dem wie immer groß­ar­tigen Nicholas Hoult), der seine hoch­schwan­gere Frau gezwun­ge­ner­maßen alleine lassen muss. Er wird als Geschwo­rener (ihm wird die Nummer 2 zugeteilt, daher der Titel) in einem Fall ernannt, der um besagten Todesfall kreist: In einer Bar wurde ein Streit zwischen einem Liebes­paar beob­achtet, der eska­lierte, am Folgetag wurde die betei­ligte Frau tot im Straßen­graben gefunden. Die Anklage: Ihr Freund hätte sie nach dem Streit verfolgt und umge­bracht.
Ein klas­si­sches Gerichts­drama also, das Eastwood hier entwirft, ein urame­ri­ka­ni­scher Stoff. Die Heran­ge­hens­weise jedoch ist untypisch, bereits im ersten Drittel wird dem Zuseher der Mörder verraten: Es ist der sympa­thi­sche Prot­ago­nist Justin, der die Frau verse­hent­lich mit dem Auto rammte, abgelenkt vom Regen und einem Tele­fon­anruf seiner Frau.

An Hitch­cocks Suspense-Theorie wird sich also bedient, weniger jedoch zur Stei­ge­rung der Spannung, vielmehr zeigt der Film ein Interesse an der Analytik, an der Objek­ti­vität. Gleich zu Beginn legt er alle Karten offen, präsen­tiert die Beweg­gründe der Figuren, beob­achtet sie mit beinahe sozio­lo­gi­schem Interesse. So treten die Ideo­lo­gien der anderen Geschwo­renen (sie alle waren am Abend des Unfalls in der Bar anwesend) zu Tage, glei­cher­maßen jene der beiden Anwälte. Diese kennen sich aus Studi­en­zeiten, haben mitt­ler­weile diame­trale Ansichten zum Justiz­system. Während Eric (Chris Messina) streng bei der Justiz bleibt, hat sich Faith (wie immer toll: Toni Collette) der Politik geöffnet. Obwohl im Verfahren »verfeindet«, treffen sich die beiden regel­mäßig in einer Bar, haben ein freund­schaft­li­ches Verhältnis. Die Justiz, das wird sofort klar, ist kein Raum der mora­li­schen Erha­ben­heit, sondern ein reines Business, ein sich wieder­ho­lender Arbeits­ab­lauf, ein festes, unver­än­der­li­ches System. Selbst wenn Zweifel aufkommen (wie später bei Faith), muss an jenem fest­ge­halten werden, das schlechte Gewissen kommt danach, dann, wenn es bereits zu spät ist.

Diese Fest­ge­fah­ren­heit ist schließ­lich auch das zentrale Thema des Films. Um zu einer Entschei­dung zu gelangen, müssen die Geschwo­renen ein einstim­miges Urteil fällen, eine Voraus­set­zung, die beinahe unmöglich erscheint. Die Fronten sind bereits von Beginn an verhärtet, es gibt Skeptiker, die alles hinter­fragen, andere wiederum bleiben stoisch auf ihrem Punkt bestehen. Justin selbst möchte natürlich den Frei­spruch erzwingen, die Schuld­ge­fühle nagen an ihm, das Leben eines zweiten Menschen zu zerstören, liegt ihm fern. Doch wie agieren gegen Menschen, zu deren subjek­tiver Einschät­zung man nicht durch­stoßen kann, die sich schlichtweg weigern, von ihrer Position abzu­rü­cken?

Zunächst wird viel disku­tiert, schnell verläuft sich die Abstim­mung aber in Stell­ver­tre­ter­kriege: Jeder Geschwo­rene möchte schnell nach Hause, jeder möchte aber auch einen Schul­digen finden. »Aber wer war es dann?«, heißt es sinngemäß, es erscheint unbe­frie­di­gend, auf »nicht schuldig« zu plädieren, ohne einen Ersatz­täter gefunden zu haben. Dass der Ange­klagte ein Gang­tattoo trägt, verkom­pli­ziert das Ganze zusehends. Er ist also ein »schlechter Mensch«, selbst wenn er nicht für diese (vermeint­liche) Sünde verant­wort­lich ist: Ein Sünder ist er so oder so.

Die Debatte also treibt immer weiter von ihrem Kern (ein scheinbar so simples Ja oder Nein) davon, vermengt sich mit lauter Parti­ku­lar­in­ter­essen, die einfach keinen Ausweg mehr zulassen.
Eastwood und gerade Dreh­buch­autor Jonathan Abrams reichern dabei jede Figur mit so viel Details und Hinter­grund an, dass dieses filmische Sozi­al­ex­pe­ri­ment zu keiner Zeit gestellt oder fremd wirkt. All das könnte genau so passieren. Dazu tragen natürlich auch die allesamt gran­diosen Schau­spieler*innen bei, die ihren Figuren kleine Macken und Gesten verleihen, die in Kombi­na­tion mit den – zwar zurück­ge­nom­menen, aber perfekt gewählten – Kostümen und Requi­siten die Illusion komplet­tieren. Was hier entsteht, ist nichts weiter als ein sich sekünd­lich verdich­tendes Netz aus Stand­punkten, Ideo­lo­gien und Inter­essen, das keinen Ausweg, keine Lösung und ganz bestimmt keine Gerech­tig­keit mehr bieten kann.

Das ist kluges, komplexes und zutiefst mensch­li­ches Kino, doch in der Summe bleibt es unbe­frie­di­gend. Zwar erfüllt Eastwood sein (speku­la­tives) Ziel vollends – auch visuell, Juror #2 ist ein voll­kommen ameri­ka­ni­scher Film, die Ästhetik der grauen Polyester-Polo­hemden und Stanley-Cups wird hier perfek­tio­niert – nur entsteht daraus keine wütende Anklage an das Justiz­system, vielmehr ein resi­gnierter Kniefall vor eben jenem. Alles scheint hier falsch zu laufen, nur ist alles dabei allzu mensch­lich, vollends vers­tänd­lich und nach­voll­ziehbar. Es ist beinahe keine Kritik mehr, die hier geäußert wird, die system­in­hä­renten Probleme sind so verästelt und natürlich, dass sie auch durch das Einführen von neuen Regeln, neuen Hilfs­an­nahmen nicht gelöst werden können. Das ist inter­es­sant und wohl auch richtig, in seiner – man könnte sagen – offenen Hermetik aber zutiefst unbe­frie­di­gend, in einem Grad, dass die Wirkung immer abstrakter, immer noch ein bisschen ungreif­barer wird.
Dabei hilft auch die zurück­ge­nom­mene Bild­ge­stal­tung nichts, die pflicht­be­wusst den Themen des Films folgt. Das Meiste spielt in Innen­räumen, arbeitet auch klug mit ihnen – wie verhält man sich im offenen Raum, wie in den heimi­schen vier Wänden etc. – bleibt aber erneut im analy­ti­schen, beob­ach­tenden Modus.

Diese Kritik­punkte sind dabei ebenso als Lob zu lesen, Juror #2 verfehlt keines­falls seine kühle, beob­ach­tende Wirkung. Nur ist diese so selbst­be­zogen, so ausweglos und funda­mental, dass es schon beinahe beiläufig wirkt. Justitia ist nicht blind in diesem Film, sie ist eine Illusion, ein Phantom, das vor den sterilen ameri­ka­ni­schen Gerichts­häu­sern prangt. Ein Symbol, das auf eine Objek­ti­vität verweist, die einfach nicht erreicht werden kann – die Subjek­ti­vität, man kann es auch das Mensch­sein an sich nennen, lässt es nicht zu. Einen Ausweg daraus bietet Eastwood nicht, allen­falls als einen Appell an das gute Gewissen, an Aufrich­tig­keit kann man diesen Film lesen. Doch wer glaubt schon wirklich daran, gerade nach diesen 114 Minuten?
So bleibt es bei dem zynischen Trink­spruch, den Anwalt Eric an einer Stelle äußert: »To the justice system, it ain’t perfect, but it’s the best we got.«
Im Film, wie im echten Leben.