Deutschland 2018 · 100 min. · FSK: ab 6 Regie: Caroline Link Drehbuch: Ruth Toma Kamera: Judith Kaufmann Darsteller: Julius Weckauf, Luise Heyer, Sönke Möhring, Joachim Król, Ursula Werner u.a. |
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Etwas ganz Besonderes |
»Und gleichzeitig bin ich auch Tante Lore und die Richtung, in die sie mich im Kinderwagen auf dem Feldweg schiebt. Ich bin die gescheckte Kuh auf der Weide, das gelbe Korn auf dem Feld und der rote Mohn am Wegesrand. Ich bin der schmale Trampelpfad und dessen Ende. Ich bin der wolkenlose Himmel. Ich bin wach.« – Hape Kerkeling in Buch und Film »Der Junge muss an die frische Luft«
Auch mit einer ausgesprochenen Liebe für gute Stand-up-Comedy war es nicht immer leicht, sich mit Hape Kerkeling und seiner Karriere anzufreunden. Denn Kerkeling tanzte mit zunehmender Bekanntheit – nachdem er 1983 den damals erstmals vergebenen Passauer Kabarettpreis erhalten hatte – nicht mehr nur auf kleinen, schmutzigen Bühnen, im Radio und kleinen Comedy-Shows, sondern auch auf immer mehr Glamour-Hochzeiten, moderierte große Galas, Fernseh-Events, wurde von Rosa von Praunheim als schwul geoutet, machte seinen ersten eigenen Film (Kein Pardon, 1993), überraschte als Double von Königin Beatrix, als Eisverkäufer auf dem Parteitag der CDU, mit grotesken Kunstfiguren wie Evje can Dampen, Gisela, Günther Warnke, Hannilein oder Horst Schlämmer und dann auch als Buchautor. Denn nach einem Hörsturz Anfang 2000 erlaubte sich Kerkeling eine erste Zeit der Retrospektive, wanderte 2001 630 Kilometer den Jakobsweg entlang und veröffentliche fünf Jahre später »Ich bin dann mal weg«, die Beschreibung seiner Pilgerreise, die 2015 dann auch verfilmt wurde. In der Zwischenzeit hatte Kerkeling allerdings wieder von Wandertempo auf Hochgeschwindigkeit umgestellt, drehte einen weiteren Film ab (Samba in Mettmann, 2003), war als Nachfolger von Thomas Gottschalk im Gespräch, trat in anderen Hochglanzshows auf, lieh Blockbuster-Zeichentrick-Helden seine Synchronstimme und veröffentlichte 2014 kurz vor seinem 50. Geburtstag Erinnerungen an seine Kindheit und frühe Jugend – »Der Junge muss an die frische Luft«. Mit diesen Erinnerungen und seinem 50. Geburtstag beendete Kerkeling auch offiziell seine Karriere im großen Showgeschäft.
Zwar erklären Kerkelings Erinnerungen nicht, warum er mit 50 genug vom großen Geschäft hatte, aber sie erklären seinen Weg zum Humor und erzählen liebevoll, komisch, berührend und schonungslos zugleich von einer Kindheit im Ruhrgebiet, die normaler und ungewöhnlicher nicht hätte sein können. Und sie zeigen vor allem eins: den Menschen hinter den vielen Rollen, Masken und durchaus auch gebrochenen Erfolgsstereotypen. Dass ausgerechnet Caroline Link sich der Verfilmung dieser Erinnerungen angenommen hat, ist ein großes Glück.
Denn Link ist nicht nur Kerkelings Jahrgang und hat damit eine »angeborene« Ahnung davon, was eine Kindheit in den 1970ern in Deutschland bedeutete, sondern hat in ihren Filmen – sei es ihrem Debüterfolg Jenseits der Stille (1996), ihrem Kinderfilm Pünktchen und Anton (1998), Nirgendwo in Afrika (2001), Im Winter ein Jahr (2008), und auch ihrem von der Kritik sehr verhalten rezensierten letzten Film Exit Marrakech (2013) – dysfunktionalen Familienkonstellationen immer wieder überraschende Aspekte abgewonnen. Und dabei stets gezeigt, dass Kinder und junge Erwachsene unter ihrer Regie zu Höchstleistungen auflaufen.
Das gilt auch und vielleicht am meisten für Der Junge muss an die frische Luft. Denn was ihr Hauptdarsteller Julius Weckauf als zu Anfang neunjähriger Kerkeling hier zeigt, ist große Schauspielkunst. Zwar irritiert zu Anfang (und am Ende) noch die ein wenig befremdliche Entscheidung von Link, Weckauf auch als erzählende Stimme aus dem Off zu wählen – wo es sich doch explizit um die Erinnerungen und den Rückblick eines Erwachsenen handelt –, doch da diese Off-Einsprechungen schon sehr bald von einer fast schon überwältigenden Lust an Präzision für die ethnografischen Details der 1970er und vor allem von plausiblen und eindrücklichen Dialogen nach einem Drehbuch von Ruth Toma abgelöst werden, ist diese Irritation schnell vergessen.
Umso mehr, als nicht nur das übrige Personal fantastisch aufspielt, sondern vor allem auch, weil es Link gelingt, den schmalen Grat zwischen erleichternder Komik und bitterem Ernst im Leben Kerkelings nicht zugunsten von Klamauk oder kitschigem Pathos zu erweitern. Stattdessen beschreibt sie den Alltag des Kindes Kerkeling in einer schwierigen Familiensituation mit seinen Höhen und Tiefen. Vor allem das langsame Abgleiten von Kerkelings Mutter Margret (Luise Heyer) in die Depression wird in ihrer banalen Alltäglichkeit erschütternd genau beobachtet und mit dem konzertanten Einspringen von Kerkeling als Einzigem, der seine Mutter noch zum Lachen bringen kann, immer wieder tragikomisch auf den Punkt inszeniert.
Aber der Film beeindruckt nicht nur durch seine genauen und immer wieder berührenden Psychogramme von Großeltern, dem Bruder, Vater und Freunden und natürlich der Mutter, sondern auch durch seinen Mut, den ganz normalen Alltag in den 1970ern und im Speziellen in Recklinghausen und im Ruhrgebiet in kleine Vignetten zu gießen, die nicht nur durch ihre nebensächliche Inszenierung brillieren, sondern auch durch eine fast schon lapidare Ironie, eine Art »ruhrgebietlerische« Sicht auf die Dinge, die im Zusammenspiel mit der konsequent, aber nie aufgesetzt verwendeten ruhrdeutschen Mundart und dem nahezu perfekten Changieren zwischen Tragik und Komik Links Film zu etwas ganz Besonderem macht.