Deutschland 2023 · 100 min. · FSK: ab 16 Regie: Benjamin Pfohl Drehbuch: Benjamin Pfohl, Silvia Wolkan Kamera: Tim Kuhn Darsteller: Laura Tonke, Mariella Aumann, Andreas Döhler, Henry Kofahl, Ulrich Matthes u.a. |
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Allein mit der Natur | ||
(Foto: missingFILMs) |
Eine männliche Stimme zählt aus dem Off von zehn auf null herunter, spricht beschwörende Worte, begleitet von meditativer Musik. Zu sehen sind Wolkennebel über dem Jupiter. Am Ende sagt der Mann: »Wir sind frei.« Der Countdown signalisiert: Es steht etwas Großes, Unumkehrbares bevor. Nach einem harten Schnitt folgt die agile Kamera der 14-jährigen Lea (Mariella Aumann), die mit Freundinnen ausgelassen bei einer Schaumparty in einem lauten Club in Leipzig tanzt. Doch dann platzt ihre Mutter Barbara (Laura Tonke) herein und schleppt Lea nach draußen. Dort warten Leas Vater Thomas (Andreas Döhler) und ihr jüngerer Bruder Paul (Henry Kofahl) im Auto, die Familie bricht eilig zu einem Wochenendausflug auf.
Doch irgendetwas stimmt nicht. Obwohl auf Lea am Montag in der Schule eine wichtige Prüfung wartet, meldet die Mutter sie während der Fahrt in die Berge krank. Kurz danach wirft Barbara auf einer Tankstelle ihr Handy in den Mülleimer. Als die Familie auf einem Parkplatz ankommt und die Rucksäcke auspackt, lässt Thomas den Schlüsselbund auf dem Autodach liegen. Es ist das zweite Zeichen, dass die Eltern einen Weg ohne Wiederkehr eingeschlagen haben.
Noch ist Lea arglos. Auch als die Familie im Camp einer Sekte ankommt, die dort den Kometen Calypso auf seinem Weg zum Planeten Jupiter beobachten wollen. Die Gruppe glaubt, dass der Ursprung der Menschheit auf dem Jupiter liegt. Dort würden sie endlich wieder in Harmonie mit sich und ihrer Umgebung leben können, verspricht der charismatische Sektenführer Wolf (Ulrich Mathes). Doch dann sieht Lea ihren Vater beim Arbeiten an einer seltsamen Maschine und erfährt den wahren Zweck ihres Aufenthalts. Mit aller Kraft versucht Lea, ihre Eltern vom Vorhaben eines kollektiven Suizids abzubringen und zur Heimkehr zu bewegen. Doch Wolfs verführerische Versprechungen scheinen stärker zu sein.
Der Regisseur Benjamin Pohl kombiniert in seinem ersten langen Spielfilm, der auf seinem gleichnamigen 13-minütigen Kurzfilm aus dem Jahr 2019 beruht, Elemente von Coming-of-Age-Film, Familiendrama und Fantasyfilm. Sein ungewöhnlicher Filmhybrid gewann auf den Hofer Filmtagen 2024 gleich drei Preise: den Förderpreis Neues Deutsches Kino, den Kritikerpreis für die beste Regie und den Bild-Kunst-Förderpreis für das beste Szenenbild, der an Fryderyk Świerczyński ging.
Pohl erzählt konsequent aus der Perspektive des Mädchens, das ganz andere Sorgen und Wünsche hat als ihre frustrierten Eltern, die vom Leben im Hier und Jetzt enttäuscht sind. Als Lea in der Schule – offenkundig unter dem Einfluss der Eltern – erklärt, dass es auf dem Jupiter eine »immaterielle Lebensform« gebe, wird sie von ihren Mitschüler/innen verspottet. Verunsichert ist die Außenseiterin ohnehin, seit eine Freundin sie nach einer Party zärtlich geküsst und gestreichelt hat. Solche Einblicke in die Vorgeschichte liefern Leas Erinnerungen, die die aktuelle Erzählung in Rückblenden immer wieder unterbrechen. Für meditative Ruhepunkte und Möglichkeiten zur Reflexion sorgen zudem die gelegentlich eingeblendeten Bilder von den langsam dahingleitenden Wolkengebilden auf dem größten Planeten des Sonnensystems.
Marielle Aumann gebührt ein dickes Lob für ihre darstellerische Leistung als Lea. Ihre zurückhaltende Mimik und Körpersprache bringt die Desorientierung, den Zwiespalt und den Widerspruchsgeist eines Teenagers überzeugend zum Ausdruck, dem die Eltern eine unerträgliche Entscheidung zumuten. Wunderbar ist auch die nonverbale Interaktion Aumanns mit Kufahl, der den jüngeren Bruder verkörpert, der offenbar an einer unerklärlichen kognitiven Störung leidet: Lea versteht es weit besser als alle Erwachsenen, den ängstlichen Paul zu beruhigen.
Die junge Schauspielerin steht in puncto Ausdrucksstärke dem Charakterdarsteller Ulrich Mathes, der als Sektenguru ausgiebig über die Umweltsünden der Menschheit lamentiert und darüber schwadroniert, dass »wir nicht in diese Welt gehören«, in nichts nach. Und auch mit Andreas Döhler kann sie locker mithalten, der als Leas Vater Thomas zwischen Laissez-Faire und Aufbrausen, Verzweiflung und Dominanz schwankt.
Insgesamt eine bemerkenswerte Talentprobe des 1985 in Köln geborenen Regisseurs. Vor allem sensibilisiert sie für schmerzhafte Brüche und leise Entwicklungen, die bei bestimmten Menschen zu Mutlosigkeit und Resignation, Verzweiflung und Radikalisierung führen können. Und sie liefert Anschauungsmaterial und Denkanstöße, wie es Sekten gelingt, die seelischen Notlagen dieser Menschen skrupellos auszunutzen.