Das Kabinett des Dr. Parnassus

The Imaginarium of Doctor Parnassus

Großbritannien/Kanada/F 2009 · 122 min. · FSK: ab 12
Regie: Terry Gilliam
Drehbuch: ,
Kamera: Nicola Pecorini
Darsteller: Heath Ledger, Johnny Depp, Colin Farrell, Jude Law, Christopher Plummer u.a.
Faust reloaded, overloaded

Von Caligari zu Tony Blair

Terry Gilliam (Brazil, 12 Monkeys, Münch­hausen) ist der Don Quixote, der Lügen­baron und der Märchen­er­zähler des Kinos in einem. Jetzt erweckt dieser Kino­ma­gier sogar Tote zum Leben: Denn sein neuester Film mit dem barocken Titel The Imagi­na­rium of Doctor Parnassus ist der letzte Film von Heath Ledger, der vor knapp zwei Jahren während der Dreh­ar­beiten starb. Ein sehr typischer Gilliam-Film, der alle Themen des Regis­seurs vereint und vieles zeigt, was man schon langer von Gilliam kennt. Etwas Neues zeigt er dagegen nicht wirklich, aber nach der etwas mühsamen ersten zähen halben Stunde ist dies ein schöner und sehr unter­halt­samer Film.

Was für ein absurder Abgang: War es nun Selbst­mord, Drogen­rausch oder irgend­etwas dazwi­schen – als der Schau­spieler Heath Ledger vor knapp zwei Jahren, am 22. Januar 2008 über­ra­schend verstarb, befand er sich mitten in den Dreh­ar­beiten zu diesem Film. Teile waren bereits abgedreht, Millio­nen­summen inves­tiert, nun schien auch der Film zusammen mit seinem Haupt­dar­steller gestorben, und sein Regisseur Terry Gilliam endgültig zum Pechvogel der Branche geworden zu sein. Denn schon im Jahr 2000 ging sein lang­ge­hegtes Don Quixote-Projekt The Man Who Killed Don Quixote mitten im Dreh in einer Unwet­ter­ka­ta­strophe unter. Doch Gilliam, geboren 1940 und als einziger Ameri­kaner – der wegen des Vietnam-Krieges nach Großbri­tan­nien emigriert war – seit 1969 Mitglied der briti­schen Komi­ker­truppe Monty Python, ist seit jeher nicht nur einer der besten, sondern auch einer der einfalls­reichsten Regis­seure des Kinos. Gleich drei Kollegen über­nahmen Ledgers Rolle – da der Film sowieso über weite Passagen in einer Paral­lel­welt spielt, fällt das dem Zuschauer auch gar nicht weiter auf. »Natürlich: Zuerst dachten wir, wir müssten aufhören. Wir hatten so ein Glück im Unglück: Denn nur weil Doctor Parnassus eine derart phan­tas­ti­sche Geschichte ist, gab es überhaupt die Möglich­keit, dass so ein Ausse­hens­wechsel glaub­würdig war. Man sieht also mal wieder: Die Phantasie rettet uns!«, kommen­tierte Gilliam selbst diese Vorgänge.

Und so ist The Imagi­na­rium of Doctor Parnassus nicht einfach ein stink­nor­maler Fanta­sy­film und typisch quietsch­buntes Giliam-Kino geworden, sondern ein unge­wöhn­li­ches Kinostück.
Karl Marx bemerkte in seinen Essay »Der acht­zehnte Brumaire des Louis Bonaparte« im Anschluss an Hegel, dass alle großen welt­ge­schicht­li­chen Personen sich sozusagen zweimal ereignen: Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Dieser Film ist die Farce zur Tragödie von Heath Ledgers allzu frühem Tod.

Die Anfangs­titel sind in Spie­gel­schrift geschrieben, und es geht los mit »London, England«, dem Blick auf Obdach­lose und eine altmo­di­sche Kutsche. So könnte gut und gern eine Geschichte von Dickens beginnen, doch dann hört man Techno-Klänge, sieht moderne Autos und begreift: Die Handlung spielt in der Gegenwart. Die Kutsche trans­por­tiert eine fahrende Bühne und von diesen ersten Minuten an ist der Film auch eine Feier des Kinos als Jahr­marktsver­gnügen, seiner Ursprünge in billigen Sensa­tionen, starken Reizen, dreisten Tricks, in der Bezau­be­rung und Über­wäl­ti­gung des Publikums. Einmal fällt im Film der Satz: »Three rules. First: There is no such thing as black magic. Only cheap tricks. And I forgot the other two.« Terry Gilliam erzählt insofern in seinem ersten eigenen Story­board seit Münch­hausen natürlich in aller Beschei­den­heit auch unbedingt viel über sich selbst, einen alten Geschich­ten­er­zähler, dessen besondere Begabung darin liegt, jedem genau das zu bieten, was er sucht und bekommen will.

So wie jener Doctor Parnassus, der hier sein Imagi­na­rium vorstellt. Ein Gilliam-Doppel­gänger, dem zuletzt der rechte Erfolg fehlte, aber der immer noch ein paar Tricks auf Lager hat. Und darum könnte The Imagi­na­rium of Doctor Parnassus auch gut und gern »The Imagi­na­rium of Doctor Gilliam« heißen. Dieser Parnassus, so stellt sich heraus, ist unsterb­lich, er erzählt nicht irgend­eine Geschichte, sondern »the eternal story«. Und sein ständiger Gegen­spieler ist Nick, der Teufel. Gespielt von einem wunder­baren Tom Waits als zigar­ren­kau­endem, melo­ne­tra­gendem Chicago-Boy will er den Erzähl­fluss des Doctors unter­bre­chen und damit an und für sich das »Ende der Geschichte« bewirken – wer das nicht auch als Metapher auf den Neoli­be­ra­lismus und Gilliams private Geschichts­phi­lo­so­phie begreift, unter­schätzt Terry Gilliams Inter­essen wie seine Intel­li­genz. So ist dies auch eine poli­ti­sierte Fanta­sy­ver­sion des Faust, nur dass der Kampf zwischen Parnassus und Teufel, zwischen poeti­schem Geschich­ten­er­zähler und prosai­schem Bilan­zen­ver­künder – zwischen »The story stopped!« und »You can’t stop stories beeing told« – ein ewiger ist.

Auch des Parnassus' geheim­nis­volles »Imagi­na­rium« ist übrigens nicht ganz von dieser Welt, inmitten des kunter­bunten, schrillen Jahr­markt­sklimbim verbirgt sich vielmehr ein Spiegel, der das Eingangstor in ein Zauber­reich bildet. Wie beim Wizard of Oz, wie bei Alice in Wonder­land, der Gilliam mit seinem Film Tideland schon eine wunder­bare Hommage gewidmet hat.

Nun: Auftritt Heath Ledger. Ausge­rechnet als Gehenkter, an einem Seil unter einer Themse-Brücke baumelnd, sieht man ihn zual­ler­erst. Er wird wieder­be­lebt, oder besser: gerettet, und belebt nun auch die abge­ta­kelte Thea­ter­truppe des Parnassus, zu der dessen jung­fräu­liche Tochter, ein Zwerg, und der Jüngling Anton gehören. Was es genau aber mit diesem Tony auf sich hat, weiß keiner, man weiß nur, dass er von der Russen­mafia verfolgt wird. Während Parnassus und seine Tochter ihn ins Herz schließen – Die Tochter, das sollte unseren Verdacht wecken, hat aller­dings eine Tendenz, vom Spießer­glück zu träumen –, gilt er den anderen nur als fiese Klap­per­schlange, auch weil er vor allem ein Marketing-Mann ist. Mit Marketing wird schließ­lich tatsäch­lich der Teufel besiegt, ein paar ältere Frauen werden dabei geopfert, selbst schuld muss man sagen, weil sie doch die Eitelkeit, die älteste Todsünde, in den Abgrund des Spie­gel­ka­bi­netts hinein­reißt. Auch hier bedient sich Ledger aller »Joker«-Tricks, doch wie in der dunklen Nacht des letzten Batman-Films wird er und sein virtu­elles Universum besiegt von der Old School, der analogen Väterwelt.

Was für ein letzter Auftritt, dieser, nun wirklich aller­letzte von Heath Ledger – nach Todd Haynes I’m Not There und dem Joker in Chris­to­pher Nolans Batman-Spektakel The Dark Knight –, jeden­falls bevor es üblich wird, Darsteller per Animation wieder zum Leben zu erwecken, und Ledger dann viel­leicht auch einmal mit Marilyn Monroe knutschen darf...

Wie bizarr es doch ist, dass Ledgers Tod inmitten des Drehs dazu, man muss das so sagen, auch das Seine getan, und dem Film zusätz­lich genutzt hat, indem er ihm eine weitere Wendung gibt – ins sozusagen Post­mo­derne, ausge­rechnet beim ganz und gar modernen Surrea­listen Gilliam. Denn die »physi­schen Trans­for­ma­tionen« der Tony-Figur, die in den »Imagi­na­riums«-Passagen des Films durch Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell gespielt wird, geben allem ein zusätz­li­ches phan­tas­ti­sches Element.

Nach der Erfahrung mit James Camerons nicht wirklich geglücktem neuen Film kann man auch sagen: Depp, Law und Farrell wirken hier als analoge Avartare Ledgers, und saugen aus ihrem Ausgangs­ma­te­rial alle Energie und alles Leben. Was schon als Beschwö­rung des klas­si­schen Jahr­markt­kinos von Georges Méliès begann, wird hier gerade durch den Tod des Stars zum Triumph des analogen Erzählens, des Verstandes und der Phantasie – beide sind kein Wider­spruch – und des Regis­seurs über die Macht des Stars. Eine bewegende Medi­ta­tion über das Weiter­leben des Kinos ange­sichts des Todes. The Show will go on. Eine Ode auf die Magie des Mediums.
Es ist makaber, wie sehr diese Rolle mit Todes- und Vergäng­lich­keits­mo­tiven spielt: ein Über­spannter, Todes­naher, der noch zwei weitere Male Tony/Ledger in diesem Film gehenkt wird, und wieder aufer­steht – bevor er endgültig sterben muss.

Und zugleich ist Johnny Depp, der künftige Don Quixote, falls Gilliam sein Traum­pro­jekt doch noch verwirk­licht, hier, nebenbei gesagt, ganz eindeutig viel, viel besser als Ledger. Auch dies darf man hier sagen: Heath Ledger ist, gar keine Frage, tenden­ziell über­schätzt. Aus Pietät. Aber das macht nichts. Denn darum geht es im Kino.

Stilis­tisch ist der Film von Anfang bis Ende über­bor­dend. Eine verkitschte LSD-Phantasie, ein wild-chao­ti­sches Spiel mit Refe­renzen, Zitaten und Versatz­stü­cken, über­ra­schend nahe an der Seventys-Ästhetik der Monty-Pythons. Auch film­his­to­risch wird hier mit allerlei gespielt: Außer mit dem Monty-Python-Universum auch mit, sogar der deutsche Verleih hat’s erkannt, Robert Wienes bahn­bre­chendem Das Cabinet des Dr. Caligari, einem expres­sio­nis­ti­schen Stummfilm von 1920 und Orson Welles' The Lady from Shanghai wird zitiert.

Zugleich ist The Imagi­na­rium of Doctor Parnassus aber noch etwas ganz anderes: Eine Satire aufs »Cool Britannia«-London der »New Labour«-Ära Tony Blairs: Es geht um Mate­ria­lismus, der Film macht sich über saufende Yuppies genauso lustig wie über Desperate House­wives in den Shopping-Malls. Vor allem aber über Blair selbst. Denn Tony wird im letzten Drittel entlarvt als »Tony the Liar«, als Millionär, der die Medien verzau­bert, der sich gern mit dem Dalai Lama photo­gra­phieren lässt – »Tony saves Tibet« –, und über eine Kinder­hilfs­stif­tung ein Wohl­fahrts-Charity-Business betreibt, das ihm vor allem viel Geld in die eigene Tasche spielt.

Hätte dieser Film nicht ein etwas arg konfor­mis­ti­sches Ende voller Spießer­glück-Phan­ta­sien und wäre die Kamera ähnlich phan­ta­sie­voll wie der Rest, wäre er richtig groß. So ist es immer noch ein sehr guter Film, eine schrille Reflexion darüber, wie uns die Phantasie aus den Finanz- und anderen Krisen retten kann. Aber auch – »back to work« lautet der letzte Satz – Moritat und Metapher für die Gnaden­lo­sig­keit des Unter­hal­tungs­ge­werbes, mit seinen lebenden Toten, in dem ande­rer­seits Tote nicht sterben dürfen, das über Leichen geht, und sie, wo nötig, sogar fleddert.