DK/L/F/D/Q/AFG 2019 · 90 min. · FSK: ab 12 Regie: Shahrbanoo Sadat Drehbuch: Shahrbanoo Sadat Kamera: Virginie Surdej Darsteller: Qodratollah Qadiri, Sediqa Rasuli, Masihullah Feraji, Hasibullah Rasooli, Ahmad Fayaz Omani u.a. |
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Träume von Bollywood und einer besseren Welt | ||
(Foto: Wolf Kino) |
Es ist ein Glück, dass es die afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat im September gerade noch geschafft hat, mit den abziehenden französischen Truppen ihre Heimat zu verlassen, und damit auch die Chance wahrnehmen kann, das ambitionierte fünfteilige Filmprojekt zu beenden, dessen zweiter Teil nun in unsere Kinos kommt.
Inspiriert wurde Sadat zu ihrem Projekt durch ein Stipendium der Cannes Cinéfondation Residence, nachdem sie 2011 im Rahmen der Quinzaine des réalisateurs in Cannes ihren ersten Kurzfilm vorgestellt hatte und auch auf François Truffauts 20-Jahre umspannenden Antoine Doinel-Zyklus stieß. So wie damals Jean-Pierre Léaud steht seit 2016 bei Sadat Qodratolla Qadiri vor ihrer Kamera. War er in Wolf and Sheep noch ein Hirtenjunge, so ist er nun, Ende der 1980er Jahre, in Kabul angekommen und lebt als inzwischen 15-jähriges Waisenkind auf den Straßen Kabuls, versucht mit kleinen Tricks zu überleben, kooperiert mit anderen Jugendlichen und liebt das Kino Bollywoods. Bis er eines Tages von Undercover-Polizisten aufgegriffen und in einem Kinderheim in Kabul festgesetzt wird. Das bedeutet nicht nur das Ende des alten, freien Lebens, sondern auch die Begegnung mit kaum verdeckten Hierarchien unter den Kindern und Jugendlichen und einem Bildungssystem, das massiv von der russischen Besatzungsmacht modernisiert worden ist. Es unterrichten nicht nur attraktive russische Lehrerinnen, sondern auch afghanische Frauen, die zudem wichtige Positionen im Schulsystem bekleiden. Und es gibt für die begabtesten Schüler und Schülerinnen Junge-Pionier-Ferien nahe Moskau, in denen auch Schach gespielt wird.
Sadat montiert unaufdringlich ihre Alltagsepisoden aneinander, fokussiert auf die Kinder und Jugendlichen und die erniedrigenden Hierarchien, aber auch auf die Lehrer und vor allem den Erzieher des Kinderheims, der vom Schauspieler Anwar Hashim verkörpert wird, dessen bislang nicht veröffentlichte Tagebucheinträge neben eigenen Erfahrungen der Regisseurin die inhaltliche Grundlage für Sadats Zyklus bilden.
Aus dieser Binnenperspektive, diesem Mikrokosmos
entfaltet sich eine komplexe Realität, mit der letztendlich ein ganzes Land erklärt wird. Die aggressivsten Jugendlichen kommen aus Pansheer, was fast nebenbei erwähnt wird, aber jeder Afghane sofort weiß, dass Pansheers nicht nur an Schulen für ihre Brutalität bekannt sind. Diese nur angedeuteten tribalistischen und anarchistischen Verwerfungen, die durch grausame, wohl durchdacht choreografierte Bilder so nachdrücklich funktionieren wie in Myroslaw Slaboschpyzkyjs
großartigem Waisenhausfilm The Tribe, werden jedoch durch wichtige Momente abgefedert, in denen Sadat ihren Helden in eskapistische Tagträume schickt, in denen er als Held in einem Bollywood-Film seine schwersten Krisen meistert und Kino zur perfekten Psychotherapie wird.
Die fundierte psychologische Entwicklung ihres Helden steht jedoch nicht nur im Einklang mit seinen Bollywood-Eskapaden, sondern vollzieht sich immer auch im Gleichschritt mit den politischen Entwicklungen des Landes. Sadat spart hier fast schon zu konsequent die Grausamkeit des Sowjet-Apparates aus, dafür erfahren wir von einem modernen Bildungssystem, nach dem sich ältere Afghanen noch heute sehnen und das ja noch viel weiter reichte als nur bis Afghanistan, denkt man etwa an den heute in Deutschland lebenden ersten und einzigen afghanischen Kosmonauten Abdul Ahad Momand.
Doch neben diesen Blicken auf eine Moderne, die ja auch schon der afghanische König Amanullah Khan und seine Frau Soraya Tarzi nach dem Ersten Weltkrieg wohl zu schnell versuchten zu implementieren, sehen wir auch in Sadats Film jene Gruppierungen im Land, denen schon unter Khan jede Moderne suspekt war und die nun unter der islamistischen Widerstandsbewegung der Mudschāhidīn auch den Alltag von Sadats Helden Qodrat zunehmend prägen. Eine Bewegung, die sich nach ihren zehn Jahren Terror (1979-1989) aufspalten wird, u.a. auch in den heute noch dominierenden Widerstand der Taliban.
Die Ähnlichkeiten mit unserer Gegenwart sind deshalb kaum überraschend, aber die Wiederkehr des ewig Gleichen dann doch verblüffend. So wie auch die moralischen Attitüden der Besatzungsmächte – Russen wie Amerikaner – zunehmend verschwimmen, keiner am Ende weiß, was gut und was böse war, auch wenn jeder weiß, dass es ohne die russische Besatzung wohl nie die vom CIA ins Extrem ausgespielte »Divide & Rule«-Strategie mit ihrer militärischen und finanziellen Unterstützung fundamental-islamistischer Kräfte gegeben hätte.
Sadat erzählt diese Geschichte völlig unaufdringlich und vordergründig unpolitisch aus einer sehr privaten Perspektive, aus dem Alltag heraus, den jeder von uns im Westen und auch wohl viele Afghanen nachvollziehen können, so wie das Safiuallah Rahmani in unserer Videokritik bestätigt hat. Die Laiendarsteller verstärken mit ihrem reduzierten Spiel diesen Ansatz, der faszinierend dokumentarisch wirkt, im nächsten Moment durch die überraschenden Zeitsprünge oder die schon erwähnten Bollywood-Einlagen jedoch deutlich macht, dass dieser Film auch ein funkensprühendes Kunstwerk ist, eins, das glücklicherweise noch nicht abgeschlossen, sondern im Entstehen begriffen ist und auf dessen weitere Folgen man nicht nur gespannt sein darf, sondern auf das man sich trotz oder gerade wegen dieses schwierigen Themas und einer so völlig gegen den Strich gebürsteten Geschichtsschreibung einfach nur freuen kann.
Kabul im Jahr 1989 – es ist ein vergleichsweise eher ruhiges Jahr unter der seit neun Jahren bestehenden sowjetischen Herrschaft in Afghanistan.
Für die Cousins Qudrat und Fayaz, beide im Teenager-Alter und zwei der unzähligen Straßenkinder in der Hauptstadt, ist es eine Zeit, die Welt und das Leben zu entdecken. Und sie tun dies, wie man es damals so machte, mit Hilfe des Kinos.
Wuschelkopf Qudrat ist ein Fan der indischen Bollywood-Melodramen, besonders ihrer Actionhelden; er träumt davon, ein berühmter Schauspieler zu werden. Einstweilen verdienen beide sich Geld mit dem Verkauf von überteuerten Kinokarten auf dem Schwarzmarkt. Das wird ihnen eines Tages zum Verhängnis und so geraten sie in die Fänge der Behörden und landen in einem Waisenhaus, das von russischen und russlandtreuen Lehrern geleitet wird.
Das Kinderheim ist zu gleichen Teilen Sicherheitsnetz und Schmelztiegel, ein Ort mit obligatorischem Russischunterricht, Sikh-Klassenkameraden, Kindern, die argentinische Fußballtrikots tragen und für Maradona schwärmen, und nebenbei den sowjetischen Nationalsport Schach erlernen.
In dem Waisenhaus werden sie auch schnell auf die Mädchen in ihrer Klasse aufmerksam und träumen sich im Bollywood-Stil in die Figur des heldenhaften Bollywood-Liebhabers, der seiner
schönen Freundin imponiert – also dem umschwärmten Mädchen in der Klasse. Zugleich haben sie es mit der strengen und oft brutalen Hackordnung unter den Jugendlichen zu tun.
Qudrat entpuppt sich als ein Träumer, dessen Phantasien sich in Bollywood-Songsequenzen ausdrücken, und als Repräsentant eines Landes, das sich selbst noch nicht gefunden hat und aufgrund seiner einzigartigen Position auf der Landkarte und der Einflüsse aus Ost und West bis heute ein Spielball der Weltmächte ist.
Einer der inhaltlichen wie visuellen Höhepunkte des Films ist die Reise des gesamten Waisenhauses nach Moskau, um dort in einem Pionier-Lager Zeit zu verbringen und so für die kommunistische Ideologie gewonnen zu werden. Man besucht das Grabmal Lenins, erlebt dabei aber auch die Auswirkungen des zeitgleich stattfindenden Umbruchs durch Glasnot-Öffnung und Prestroijka-Reformen. Allerdings interessieren sich die Jungs auch hier viel mehr als für Politik für die sowjetischen Pioniermädchen.
Ein Spielfilm aus Afghanistan – das ist schon für sich genommen etwas Außergewöhnliches und eine spannende Erfahrung. Erst recht weil Kabul Kinderheim, im internationalen Titel The Orphanage, der im Jahr 2019 in der Quinzaine in Cannes seine Premiere hatte, von großer künstlerischer Qualität ist. Er stammt von der als Dokumentarfilmregisseurin bekannten Shahrbanoo Sadat. Weil ein Filmdreh in Afghanistan nicht möglich
war, stellte man die Aufnahmen für den Film in Tadschikistan und in Dänemark her. Qudrat und seine Mitschüler werden im Alltag beobachtet. Vieles hier ist halbimprovisiert, die Kinderdarsteller sind keine Profis, aber sie wissen sehr genau, was sie spielen.
Ein Großteil des Films wurde im bekannten Arthouse-Realismus-Stil gedreht: Nüchterne Schauplätze, kaum Musik, doch sind alle Konflikte letztlich gedämpft und die Verhältnisse harmonisiert. Die Zuschauer brauchen keine Angst
vor allzu beschwerlichen visuellen oder emotionalen Zumutungen zu haben – gerade dies, der Verzicht auf echte Härte, unterscheidet einen Film wie diesen vom klassischen Neorealismus. Der traute sich nicht nur zur Stimmungsmache durch Musik, sondern auch dazu, Hauptfiguren sterben zu lassen.
Was an Kabul Kinderheim dagegen vor allem reizvoll ist, ist das Gefühl, dass auch Regisseurin Sadat in vieler Hinsicht noch dabei ist, herauszufinden, welche Art von Filmemacherin sie – zwischen bedeutungsvollen Botschaften und quirliger Unterhaltung – werden möchte. Souverän baut die Regisseurin immer wieder fast aus dem Nichts sehr publikumswirksam die musikalischen Tagträume des Bollywood-Kinos ein.
Die Regisseurin wirft einen
wehmütig-nostalgischen Blick auf ein verlorenes weltoffenes Kabul; und sie formuliert eine nicht minder nostalgische Liebeserklärung an das Kino, an den Zauber, das es einmal als Welterfahrungsmedium besaß.
Kabul Kinderheim ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die in ihrer Unschuld und Frische an die Nouvelle Vague und hier wohl nicht ganz zufällig an Truffauts Sie küßten und sie schlugen ihn erinnert. Ganz besonders ähnelt der Film aber den späten Filmen der Sowjetunion, die von Aufbruch und »frischem Wind« geprägt waren, von Hoffnung und Jugendlichkeit. Überbordende Fantasie wird hier in atemberaubende Bilder umgesetzt.
Und so ist dieser Film, der von der Welterfahrung durch Kino erzählt, selber auch manchmal etwas weltflüchtig. Wo Qudrat und Fayaz heute sind, möchte man zum Beispiel lieber nicht wissen. Immerhin basiert die Handlung angeblich auf realen Erlebnissen und auf den unveröffentlichten Tagebüchern des Schauspielers Anwar Hashimi.
In jedem Fall ist dies ein ungewöhnliches Kinoerlebnis, das uns endlich mal wieder einen Einblick in eine ganz neue Welt verschafft – auch wenn diese in der Vergangenheit liegt. Denn die Regisseurin zeigt ein multikulturelles Kabul, in dem freizügige Kleidung erlaubt ist, Sex und Fußball die Köpfe der Jugend dominieren, popkulturelle Einflüsse aus Bollywood, der sowjetischen Besatzung und großem Hollywoodkino in einem überraschenden Miteinander zusammenkommen – Ende der 1980er Jahre war es Realität.
Am Schluss allerdings ist die Unschuld der Jugend vorbei, die Mudschaheddin stehen vor Kabul – wenigstens im Kinotraum gelingt es aber, sie zu besiegen.