Deutschland 2022 · 99 min. · FSK: ab 12 Regie: Christine Kugler, Günther Kurth Drehbuch: Tine Kugler, Günther Kurth Kamera: Günther Kurth Schnitt: Günther Kurth, Tine Kugler |
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Kalle, als er noch klein und süß war | ||
(Foto: mindjazz) |
Nach der Premiere auf der Berlinale/Generation 14plus 2022 hatte die Langzeitdokumentation Kalle Kosmonaut auf dem DOK.fest München im Mai 2022 (in der Rubrik »Best of Fests«) eine – besonders von jungen Leuten – gut besuchte Vorstellung. Die nahmen danach auch die Gelegenheit wahr, mit dem Regie-Duo Tine Kugler und Günther Kurth und – höchstpersönlich – »Kalle Kosmonaut« über den Film und über Kalles Leben noch lange zu sprechen. Das gibt es selten.
Die im Februar 2011 begonnene Dokumentation – da war Kalle, der eigentlich Pascal heißt, zehn Jahre – begleitet den Sohn einer alleinerziehenden Mutter durch den Alltag in der Plattenbausiedlung jenseits der »Allee der Kosmonaten« in Berlins nordöstlich gelegenem Stadtteil Hellersdorf. Kerstin, Pascals Mutter, »eine Frau mit Herz, Schnauze und Tattoos«, schreibt vor ihrer Frühschicht im Baumarkt eine To-do-Liste: »Pascal, wenn du wach bist, ruf mich bitte an. Dann esse was und ziehe dich an. Kein Blödsinn!«.
Als zwei Jahre später die Dreharbeiten weitergehen, ist Kalle einer wie viele Teenager in seiner Umgebung, hängt im Park ab, mag Hip-Hop, es gibt Mutproben mit den anderen Jungs und Streitereien mit der Mutter, es ist aber auch die Zeit für die Jugendweihe und für die erste Liebe.
Bei seinen Freunden taucht schon mal das Jugendamt auf. Kalle will kein »Ghettokind« sein. Dem ihm inzwischen vertrauten Filmteam öffnet er sich immer wieder, erzählt von seiner Sehnsucht nach dem
Vater, vom Leben bei seiner Mutter, die schließlich den Mann, mit dem sie schon länger eine Beziehung hat, heiratet. Diese intensiven persönlichen Gespräche sind das Fundament des Films. Dass Kalle mal straffällig werden könnte, war damals kein Thema.
Als Kalle als 16-Jähriger wieder vor der Kamera steht, mit einer Sonnenblumenkerne-Tüte in der Hand, die er unentwegt knabbert, und einer Zigarette, die er raucht, hat er offensichtlich Angst. Er hat sich verändert, ist unsicher, wie es weitergehen soll, Drogen sind ins Spiel gekommen, auch Körperverletzung, und schließlich kommt es zur Gerichtsverhandlung. Unter Drogeneinfluss hat er offenbar grundlos auf einen Mann eingeschlagen. Kalle bereut die Tat, hat sich bei seinem Opfer aber nicht entschuldigt. So kann er sein Verhalten auch bei Gericht nicht glaubhaft ausdrücken, sagt: »Ich bin nur noch kalt.« Er wird zu 27 Monaten Haft verurteilt. Seinen 18. Geburtstag verbringt er in der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Eine Zeit, die für Kalle bitter war, ihn aber nicht mutlos gemacht hat, wie das Gespräch mit ihm nach der Aufführung beim DOK.fest München zeigte.
Das Filmteam begleitete Kalle aus dem Viertel an der Kosmonauten-Allee insgesamt zehn Jahre, in denen Vertrauen und Nähe entstanden. Weder Kalle noch seine Familie werden hier vorgeführt, sondern es wird gefragt und versucht zu verstehen. Ereignisse, die nicht mit der Kamera erfasst wurden, deuten die eingeblendeten Animationen an. Tine Kugler und Günther Kurth, beide gebürtige Bayern, lernten Pascal/Kalle im Februar 2011 kennen, als sie für eine ZDF-Reportage über Schlüsselkinder im Kinder- und Jugendwerk Die Arche in Hellersdorf recherchierten. Tine Kugler erinnert sich, wie dort irgendwann die Tür aufging und »ein Zehnjähriger kommt herein, setzt sich hin, erzählt, ist neugierig und zugewandt«; ihr Protagonist war gefunden – für einen starken Dokumentarfilm, der berührt und nachdenklich macht.