USA/GB/RO/CZ 2015 · 138 min. · FSK: ab 16 Regie: Daniel Espinosa Drehbuch: Richard Price Kamera: Oliver Wood Darsteller: Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman, Vincent Cassel, Joel Kinnaman u.a. |
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Seeehr glaubwürdig inszeniert. |
»Im Paradies gibt es keine Mörder.« So lautet das diesem historischen Thriller vorangestellte Motto. Es war ein Slogan in der Sowjetunion unter Stalin, der Zeit, in der Kind 44 spielt. Daniel Espinosas filmische Adaption des gleichnamigen Bestsellers von Tom Rob Smith beschwört das Bild des bösen Russen, wie man es seit James Bond Filmen aus den achtziger Jahren so eigentlich nicht mehr aus Hollywood kennt.
In Kind 44 spielt Tom Hardy den Geheimdienstoffizier Leo Demidov. Der lebt im Moskau der frühen fünfziger Jahre zusammen mit seiner Frau Raisa (Noomi Rapace). Leo stellt keine unnötigen Fragen, wenn er Regimegegnern nachspüren soll. Dies ändert sich, als der kleine Sohn eines befreundeten Geheimdienstmitarbeiters ermordet aufgefunden wird. Leo erhält den Auftrag, seinen Freund dazu zu bewegen, die offizielle Version zu bestätigen, derzufolge das Kind von einem Zug erfasst wurde. Als Leo sich dahingegen anschickt, auf eigene Faust zu ermitteln, geraten er und Raisa in das Visier von Leos Vorgesetzten Kuzim (Vincent Cassel). Bald darauf ereignet sich ein weiterer Kindermord.
In der Romanverfilmung gelingt es Daniel Espinosa hervorragend, die düstere Stimmung der repressiven Zeit unter Stalin atmosphärisch heraufzubeschwören. Aber diese Intensität ist für den Film Fluch und Segen zugleich. So setzt der Filmemacher den Tonfall für das noch Kommende mit einem Vorspann, der in den frühen dreißiger Jahren in der Ukraine spielt. Bei klirrender Kälte laufen vereinzelte Kinder desorientiert durch den Schnee. Wir erfahren, dass die Eltern einer grassierenden Hungerepidemie zum Opfer gefallen sind. Tatsächlich hat der »Holodomor« innerhalb von zwei Jahren mehrere Millionen Tote gefordert. Historisch umstritten ist bis heute, ob diese Katastrophe die fatale Folge einer staatlichen Fehlplanung war oder ob Stalin auf diese Weise bewusst Millionen von Ukrainern ausgelöscht hat. Letzteres wird in KIND 44 als Tatsache verkauft...
Was folgt, ist die altbekannte Hollywood-Mär vom bösen Russen. Den gibt es im Film immerhin in mehreren Schattierungen. Tom Hardy spielt den arglosen Opportunisten, der erst über seine persönliche Betroffenheit durch den Fall seines Freundes selbst zu Denken anfängt und sich so unverhofft zum ungewollten Regimekritiker entwickelt. Vincent Cassel spielt den Generalmajor Kuzim als den Inbegriff des gefühlskalten Schreibtischtäters. An der Spitze der Antipathenskala steht der von Joel Kinaman verkörperte bösartige Neider und latenter Psychopath Wassili. Selbst diese fähigen Mimen sind außerstande, ihren klischeehaften Charakteren mehr Tiefe zu verleihen.
Am ehesten gelingt dies noch Gary Oldman. Doch dessen Talent ist in der Nebenrolle des frustrierten Generals Nesterow ziemlich verschenkt. Von diesem missmutigen Staatsdiener in der entlegenen Industriestadt Wualsk hätte man man gerne mehr gesehen. Auch ansonsten ist die Zeit, die Kind 44 in dem fernab von Moskau gelegenen Provinzort spielt, die stärkste des Films. – Moskau erscheint hier als ein osteuropäisches Gotham City: ein düsterer Ort voller Korruption, Repression und moralischer Verkommenheit. – Aber Wualsk ist die Vorhölle, nach der nur noch der Gulag kommt: ein finsterer und vor Dreck starrender Ort, in dem die Fabrikarbeiter wie zur Schlachtbank gehen und Homosexuelle pauschal als Serienmörder diffamiert und in den Selbstmord getrieben werden.
Die Darstellung dieser sowjetischen Gesellschaft ist so plastisch wie holzschnittartig. Das Schlimmste daran ist jedoch nicht das, was unmittelbar auf der Leinwand selbst zu sehen wird, sondern was Kind 44 auf diese Weise unweigerlich an Erinnerungen weckt. Da steigen finstere Heerscharen an dümmlichen Hollywoodfilmen, wie Zombies aus den Gräbern, aus dem filmischen Gedächtnis des Zuschauers hervor. Die für den Film äußerst unvorteilhafte Wirkung ist, dass letztendlich auch seine große atmosphärische Stärke Magenschmerzen beim Kinogänger hervorruft.
Das ist umso gravierender, als dass diese größte Stärke streng genommen überhaupt die einzige Stärke des Films ist. Ansonsten besteht Kind 44 in erster Linie aus den eigentlichen Hauptstrang der Erzählung, die im Film zu einem Nebenstrang degradiert wird und den zur Haupthandlung erhobenen politischen Intrigen und Verstrickungen. Letztere geben sich komplex, sind jedoch eher wirr. Richtig schlecht wird es, als beim Auffinden des Täters urplötzlich beide Handlungsstränge miteinander kurzgeschlossen werden sollen. Einen Kurzschluss gibt es an dieser Stelle durchaus. Der ist jedoch mehr geistiger Natur. Denn was der Täter da unter Stöhnen von sich gibt, glänzt nur unter dem Aspekt der unfreiwilligen Komik. Einen derart lächerlichen Serienmörder hatte man zuletzt in Dario Argentos kreativen Totalausfall Giallo (2009) gesehen.